Annatina Graf

2015 «Traversata . Zur Ausstellung von Annatina Graf im Kunstmuseum Solothurn »

Titel
2015 «Traversata . Zur Ausstellung von Annatina Graf im Kunstmuseum Solothurn »
Datum
2015
Beschreibung

Traversata
Zur Ausstellung von Annatina Graf im Kunstmuseum Solothurn

Mit dem Video-Film Traversata (2011) setzt nicht nur Annatina Grafs Einzelausstellung ein, er gibt dieser auch den sprechenden Titel. Der italienische Begriff wird vor allem für den Bereich des Reisens verwendet, wo er als Durchquerung, Überflug oder Überfahrt eine Form der Bewegung bezeichnet, die während einer begrenzten, kürzeren oder längeren Zeitspanne abläuft. Er kann sowohl für ein ganz alltägliches Unterwegssein wie ˗ in metaphorischer Weise ˗ für Übergangs- und Veränderungsphasen, ja eine ganze Lebensreise stehen. Für Annatina Grafs Schaffen ist diese Verschränkung von banalen Beobachtungen des Alltags mit existentiellen Reflexionen über Bild und Erinnerung, Moment und Vergänglichkeit charakteristisch. Seit jeher ist der Mensch Hauptmotiv und Thema.

Übertragung und Erinnerung
Der Video-Film Traversata wird Teil einer räumlichen Eingangssituation, die seinem Inhalt entspricht: Über einige Stufen gelangen die Ausstellungs-Besucher in den ersten Ausstellungssaal und treten sogleich in den Bildraum einer Filmprojektion, die ein kleines Mädchen beim Schaukeln zeigt. Mit dem kurzen Aufstieg kann sich für das Publikum ein Erlebnis wiederholen, an das sich die Künstlerin bis heute erinnert: An einem Fest bei Freunden stieg sie zum ausgebauten Estrich des Hauses hinauf, aus dem ihr Musikklänge entgegen kamen. Oben angelangt, traf sie auf ein kleines Mädchen, das ganz für sich und selbstvergessen zu sanften Melodien schaukelte. Das im Gegenlicht erscheinende Kind, das vor den einströmenden Sonnenstrahlen ins Innere des Raumes schaukelte, ergriff die Künstlerin als Bild derart stark, dass sie spontan zu ihrem Handy griff, um die Szene mit der Kamera aufzunehmen. Kurz darauf setzte sie sich selbst auf die Schaukel, um ˗ nun jedoch in der Gegenrichtung, zum Licht hin ˗ das berauschende Auf und Ab im eigenen Körper zu empfinden und aus der Bewegung festzuhalten. In der teilweisen Überblendung dieser beiden Filmteile ˗ die Ansicht des schaukelnden Kindes zum einen, die Sicht der Künstlerin von der Schaukel zum andern ˗ verbinden sich die beiden Akteurinnen. Indem die Künstlerin als Erwachsene an die Stelle des Mädchens tritt und in Gedanken in ihre Kindheit zurück gelangt, kommt es zu einer Übertragung. Die Kraft der Erinnerung ermöglicht eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Im Schlussteil des Filmes sehen wir nur noch die leere, in den Raum ausschwingende Schaukel, deren Bewegungen zunehmend langsamer und kürzer werden ˗ bevor der Film in einem Loop zurückführt zum Anfang.
Die leere Schaukel spricht für den Abbruch des kindlichen Zeitvertreibs, im übertragenen Sinne auch für das Ende der Kindheit. Mit dem Sprung von der Schaukel beginnt eine Zeit des Übergangs. Die Pubertät, die Annatina Graf als zweifache Mutter an ihrem Sohn und ihrer Tochter bewusst miterleben konnte, ist zum Ausgangspunkt für ihre generelle Auseinandersetzung mit fliessenden Übergängen, mit Unschärfen geworden: nicht allein zwischen Kindheit und Reife, sondern auch zwischen Realität und Traum, Identität und Inszenierung, Erleben und Erinnern.

Illusion und Projektion
Die filmischen Bilder von Traversata zeigen im Hintergrund einen lichterfüllten Durchgang, der zu einem Balkon führt. Die starke räumliche Illusion lässt uns die reale Situation des installativen Einbaus vergessen. Mit dem Schaukeln des Mädchens sehnen wir uns selbst ins Licht, in eine unsichtbare Zukunft und Ferne. Das Moment der Sehnsucht wird durch die musikalischen Klänge, die dem Video unterlegt sind, noch verstärkt. Für den Film wählte die Künstlerin eine bereits bestehende, von der Jazz-Band ihres Lebenspartners Silvano Borzacchiello gespielte Komposition von Stefano dall’Ora, die mit ihren fliessenden Pianoklängen dem Wesen der damals im Estrich gehörten gleicht. Die verträumt sentimentale Wirkung der musikalischen Untermalung wurde dabei bewusst gesucht. Wie bei vielen von Annatina Grafs schillernden Werken, die uns viel Raum für subjektive Imaginationen lassen, wird die Projektion selbst ̶ als eine vom persönlichen Empfinden und Erinnern dominierte Interpretation – zum Thema. Die Musik scheint die Bilder von Traversata gleichsam aus dem Empfinden junger Träumerinnen und Träumer zu verstehen, die sich ihre Zukunft in den schönsten Tönen ausmalen. Gleichwohl werden solche Gefühle nicht persifliert, sondern als Teil menschlicher „Irrgänge“ erinnert und ernst genommen. Wenn sich bei der raumgreifenden Installation von Traversata Irritationen einstellen mögen, so hat dies gerade mit dem Fehlen eines ironischen Signals zu tun und der
unentschiedenen Frage, wie wir uns auf die schöne Bild- und Klangwelt, die an die manipulative Sentimentalität der Werbung grenzt, einstellen sollen. Einfühlung oder Distanzierung sind uns überlassen.

„Selfies“ als Rollenspiele
Hinter der Projektionswand von Traversata schliessen sich Werke aus den Serien Blütezeit (2009) und Nightshot (2009) an. Mit dem erwähnten „Sprung von der Schaukel“ wird sozusagen die Schwelle zur Pubertät und Identitätssuche genommen; bei den dargestellten Menschen handelt es sich nun denn auch um Halbwüchsige. Als Quellen verwendet die Künstlerin Fotos, die ihre beiden Kinder mit ihren Freundinnen und Freunden zeigen. Die Abbildungen wurden von den Jugendlichen selbst gemacht, entweder mit den Kameras ihrer Handys, oder ˗ wie im Falle von Blütezeit ˗ in den Fotoboxen, die für die schnelle Herstellung von Passfotos in Bahnhöfen aufgestellt sind. Auffallend ist die Silbergrundierung der Bilder, auf denen die Silhouetten der Figuren mit weisser Farbe aufgetragen sind. Je nach Standpunkt der Betrachtung werden die Darstellungen nur teilweise oder gar nicht sichtbar. Das Publikum muss sich also vor den Werken bewegen, um sie beim Vorübergehen wahrnehmen zu können. Vergleichbare Wirkungen hatte sie erstmals in der vorangehenden Serie erinnern (2006-08) angewendet, in der sie auf hellblaue Bildgründe silberne Lasuren auftrug. Die Unmöglichkeit, die spiegelnden Bilder auf einen Blick als Ganzes wahrzunehmen, ist Ausdruck inhaltlicher Überlegungen: Bei der Werkgruppe erinnern entspricht die erschwerte Wahrnehmung dem langsamen Prozess der Erinnerung als einem Stückwerk aus Wissen, Mutmassung und Vorstellung. Die Erinnerung selbst ist ein „Bild“, halb gefunden, halb erfunden. Die beiden späteren Werkgruppen Blütezeit und Nightshot dagegen betonen den Moment der Ausgelassenheit unter Freundinnen und Freunden. Dass sich die Motive der Werke nur aus einer ganz bestimmten Perspektive zeigen, betont nun die Bedeutung des Augenblicks. Auch hier findet sich eine inhaltliche Ebene des „Bildes“, handelt es sich doch bei den verwendeten Schnappschüssen um spielerische oder aufreizende Selbstbilder, um „selfies“ (im wahrsten Sinne des Wortes), in denen „erwachsene“ Rollen ausprobiert werden. So stimmig, ja anrührend manche dieser coolen Posen im silbernen Glanz auch wirken, so schnell kippt das Gezeigte ins Hässliche. Ein „falscher“ Schritt und wir erkennen die weisse Übermalung als eine Ansammlung blosser, stumpfer Flecken ˗ so behutsam und geschickt die Künstlerin ihre weissen Lasuren auch aufträgt.

Lasur als Haut: Elektronik und Malerei
Die Lasurmalerei tritt in Annatina Grafs Schaffen früh auf. Aus dem Jahr 2000 stammt eine Serie mit dem Titel Organ, in der sie sich für die menschliche Haut interessiert. Die in feinsten Schichten aufgetragenen Hauttöne entsprechen dem Motiv, gilt doch das Organ der Haut als ebenso dünne wie komplexe Membran zwischen Innen und Aussen. Im selben Jahr entstehen mit der Bildreihe Fusszeile, monochromen schwarz-grauen Gemälden zum Motiv ihrer eigenen Füsse, weitere Beispiele des Lasierens.
Monochromie und Lasur kommen in unerwarteter Weise auch in der Serie Moments (2012-15) wieder zum Tragen. Die mehrfarbigen auf Silbergrund gemalten Moments hängen den monochromen, zwischen Grau, Weiss und Silber changierenden Nightshots gegenüber und können gleichsam die bunt schillernden Traumwelten der Jugendlichen verbildlichen. Bemerkenswert ist die Erzeugung der bunten Farbklänge, die Annatina Graf in monochromen Farbschichten schrittweise aufbaut. Mit Hilfe eines elektronischen Filterprogramms werden die farbigen Vorlagen in die einzelnen Grundfarben zerlegt, welche die Künstlerin dann nacheinander auf die silberne Grundierung setzt. Mit der uralten Maltechnik des Lasierens imitiert sie gleichsam den technischen Druckvorgangs des zeitgenössischen Plottens. Auch wenn sie der elektronisch bearbeiten Vorlage weitgehend folgt, bleibt der Ausgang ungewiss, zumal die blendenden Silbergründe keine perfekte Kontrolle erlauben. Das Ungefähre und Unscharfe aber entspricht dem Inhalt und der Erscheinung ihrer Moments, deren Palette an eine schillernde Seifenblase erinnert. Als Metapher der Fragilität und Kürze passt sie zum thematisierten Augenblick.
Die Bilder sind nicht nur maltechnisch, sondern auch kompositorisch von erstaunlicher Komplexität. Die naheliegende Vorstellung, dass ein Moment weniger beinhaltet als ein narrativer Ablauf, erweist sich als trügerisch. Was die Welt an sinnlichen Eindrücken gleichzeitig anbietet, ist oft weit mehr als was unsere Wahrnehmung aufnehmen kann. Die zur „Collage“ verbundenen Einzelteile der Moments verbildlichen einen disparaten Reichtum mit auffallenden Lücken. Einzelne Elemente werden schnell lesbar: eine Hand, ein Gesicht (oftmals der Künstlerin selbst), Tiere, das Element Wasser. Anderes entdecken wir erst viel später. Alles wirkt wie im Fluss oder in der Schwebe; bleibender Eindruck ist eine fast traumhafte Leichtigkeit ˗ auch wenn zuweilen, wie beim Motiv eines Affen mit gefletschten Zähnen, Bizarres auftauchen kann. Der Gleichzeitigkeit des Augenblicks entspricht die kompositorische Geschlossenheit der Bilder: Alle Einzelteile gehen in einem Gesamtklang auf, verbinden sich mit der silbernen Grundfläche oder ufern unmerklich in ihr aus.

Transparenz und Spiegelung: Brechung oder Preisgabe des Privaten
Im zweiten Saal findet sich mit einer neuen, drei Meter langen Glasarbeit, die Annatina Graf eigens für die Ausstellung geschaffen hat, ein Werk, das aus der vorangehenden Serie der Moments entwickelt wurde. Die auf dem Computer „collagierte“ Komposition wird nun nicht mehr gemalt, sondern auf die Rückseite einer Glasplatte gedruckt. Das Glas steigert nicht nur die Leuchtkraft der Farben, die spiegelnde Oberfläche ermöglicht zugleich neue zufällige Bilder. Das Material Glas gleicht der vorher verwendeten Silberfarbe, die einen Teil des Bildes „ausblenden“ kann.
Im selben Saal schliessen sich Beispiele der erwähnten Serie erinnern (2006), zwei Werke aus der Reihe Night Trip (2014) sowie einige Arbeiten auf Papier an, bei denen es sich um Selbstbildnisse der Künstlerin handelt. Das Nebeneinander der Werke aus unterschiedlichen Schaffenszeiten wird unter der Fragestellung des Privaten, der sich in dieser Publikation Kathleen Bühler eingehend widmet, zu einem anregenden Miteinander. Kathleen Bühler spricht davon, dass Annatina Graf bei ihrer Serie erinnern, in der die beiden Kinder der Künstlerin vorkommen, durch das Stilmittel der blendenden Silberfarbe die schnelle Verführung und platte Rührseligkeit von Werbebildern unterläuft. Unter den privaten Fotos, die Annatina Graf verwendet, nutzt sie auch Selbstpoträts. Wiederholt entdecken wir ihr Gesicht etwa in der Serie Moments; und auch auf der erwähnten grossen Glasarbeit ist es unten rechts zu finden. Zumeist sind Präsentation und Perspektive so gewählt, dass die Züge der Künstlerin nicht sofort erkannt werden können.
Ganz direkt ˗ ohne den Schutz von Glanz und Spiegelung ˗ aber tritt uns Annatina Graf in drei Selbstbildnissen auf Papier aus dem Jahr 2013 gegenüber, die sie der langen Serie der Moments eingliedert. Obwohl Annatina Graf auch hier zum verfremdenden Stilmittel der Farb-Filterung greift, erleben wir das Gegenüber in ergreifender Schutzlosigkeit, mit Zügen von Schmerz und Trauer. Wenn sie ihre Selbstbildnisse aus schwierigen Zeiten in die Reihe der Moments stellt, so zeigt sich darin auch Tröstliches. Gute wie schlechte Momente haben ihre Zeit und Endlichkeit.

**Wasserzeichen: Erinnerung und Einbildung **
Der dritte Saal, der kleine quadratische Eckraum, nimmt ein einziges Werk auf: Die Video-Arbeit Wasserzeichen (2004), die im abgedunkelten Raum als Grossprojektion erscheint. Das früheste Werk unserer Ausstellung stellt das bereits mehrfach erwähnte, wandelhafte Element des Wassers ins Zentrum. So fliessend aus dem Dunkel die kleinen Wellenkämme einer bewegten Wasseroberfläche als weisse Zeichen auftauchen und wieder verschwinden, so end- und richtungslos muten die Klavierklänge an, die das Video begleiten. Sie scheinen aus der Ferne, einem andern Raum zu kommen, zuweilen mischen sie sich mit menschlichen Stimmen.
Die Projektion antwortet auf die grosse Glasarbeit des vorangehenden Saales und ist dieser exakt gegenüber gestellt. Damit begegnen sich in sinniger Weise die reale Spiegelung einer Glasarbeit und die gefilmte Oberfläche eines Wasserspiegels. Die farbige Glasarbeit erinnert in der Gleichzeitigkeit von Transparenz und Spiegelung an die Seerosen-Bilder von Claude Monet. Wird bei Annatina Graf das Glas als doppelter Träger betont (des rückseitigen gedruckten Bildes zum einen, der vorderseitigen realen Spiegelung zum andern), ist es bei Monet die Wasseroberfläche, die sowohl den Blick in die Tiefe, auf den Grund des Teiches, freigibt, als auch den Himmel spiegelt.
Das Video Wasserzeichen geht von einer banalen Film-Sequenz vergangener Ferientage im Tessin aus, in der die Künstlerin ihre schwimmende Tochter festhält. Indem sie das originale Filmmaterial in einem radikalen Verdichtungs- und Verdunkelungsprozess zu einem Schwarz-Weiss-Film wandelt, aus dessen nachtschwarzer Fläche nur noch die hellsten Stellen als „Zeichnung“ leuchten, wird aus einem heiter lichten Ferien-Video ein Trickfilm von unheimlicher Wirkung. Nicht von ungefähr: Im Gespräch berichtet die Künstlerin von einem traumatischen Erlebnis im Schwimmbad, wo sie als kleine Schwimmschülerin fast ertrunken wäre. Wie bei Traversata kommt ein Prozess der Übertragung oder Projektion in Gang: Beim Anblick des eigenen Kindes wird eine prägende Kindheitserinnerung wach. Und das Publikum wiederum kann bei der Betrachtung der Bilder den Prozess der Selbstspiegelung fortsetzen. Annatina Grafs Schaffen zeigt in eindrücklicher Weise, dass gerade private Bilder, wenn sie dank präziser Brechungen wie Blendung oder Unschärfe zu offenen Kunstwerken werden, viele Menschen ansprechen und besonders tief wirken können. Wenn wir gebannt dem nichtssagenden Wellengang von Wasserzeichen folgen, so ist dies zum einen den suggestiven Klängen der musikalischen Untermalung, zum andern dem anregenden Entdeckungsspiel der Einbildung zu danken. Die zufälligen Linien der Wellenkämme bilden immer neue Formen, aus denen wir dieses und jenes entziffern. Wie bei allen Werken von Annatina Graf ist der aktive Prozess des Findens und Erfindens, des Vorstellens und Imaginierens zentral.

Im Licht: Von Langsamkeit und Wiederkehr
Im vierten und letzten Saal entfaltet sich nochmals die für das Werk so typische Verbindung von Silber-Glanz und Spiegelung, die das Licht als den wichtigsten Mitspieler erkennen lässt. Es entfaltet sich dabei eine alles bestimmende Stimmung und Atmosphäre, in der das Lichthafte auf das Feine und Zarte der langsamen Ausführung, auf das Stille, zuweilen auch Rätselhafte der Motive trifft. Ist in den vorangehenden Sälen oft die Bewegung, das Changieren und Fliessen der Farbe bemerkt worden, herrscht in diesem letzten Saal nun eine auffallende Ruhe und Konzentration. Es ist, als ob wir den Atem anhalten, ganz still werden müssten, um die Schlafenden der Serie Another World (2010/11) nicht zu wecken. Auf manchen Bildern erkennen wir die Künstlerin wieder; bei einem der Schläfer handelt es sich um ihren betagten Vater.
Mit den liegenden, ausgestreckten Menschen stellen sich Erinnerungen aus der Geschichte der Malerei ein, in der Schlaf, Sterben und Tod motivisch eng miteinander verbunden sind. Unweigerlich tauchen etwa die erschütternden Bilder aus der Serie 18. Oktober 1977 (1988) von Gerhard Richter auf, in der die tote Terroristin Ulrike Meinhof (Tote, 1988) dreimal festgehalten wird, in derselben horizontalen Rückenlage, in vergleichbarer Monochromie und Unschärfe. In den Themenkreis von Schlaf und Tod, die Another World bestimmen, gehören auch Schmerz, Schutz und Trauer. In einem der Bilder begegnen wir einer liegenden Frau, die sich eng zusammen gekauert hat, mit angewinkelten Beinen. Ob sie wach liegt oder schläft, wie sie sich fühlt, ist ungewiss. Ebenso verborgen bleiben ihre inneren (Traum-)Bilder. Die weiche Unschärfe der Malerei und die wechselnde Erscheinung der silbern glänzenden Werke verbildlichen in trefflicher Weise den ephemeren Charakter von Träumen, den fliessenden Übergang des Einschlafens, zu kurzer Nachtruhe oder endlicher Agonie. Erleben wir die Bild-Serie im Vorbeischreiten, zeigt sich ein stetes Auf- und Abtauchen der Motive, ein kontinuierliches Tagen und Eindunkeln.
An der gegenüberliegenden Wand wird eine Auswahl von Bleistiftzeichnungen der letzten Jahre (Moments, 2013-15) präsentiert. Die ganze Wand wurde hierzu mit Silberfarbe gestrichen, auf der sich die leuchtend weissen, unter Gläsern fixierten Blätter wie kleine Fenster öffnen. Die Silberfarbe entspricht zugleich dem Graphit-Glanz des Bleistifts; und mit den stark spiegelnden Gläsern, welche die A4-Formate an der Wand halten, wird in zusätzlicher Weise ein schnelles Lesen der Darstellungen verhindert. Langsamkeit wird als Wert im ganzen Schaffen wirksam. Dazu gehört nicht nur die bemerkenswerte Geduld, mit der die Künstlerin ihre Lasuren malt und ihre Themen in langen Serien entwickelt, Geduld wird auch dem Publikum abverlangt, das die Werke nur prozesshaft wahrnehmen kann. Solche Langsamkeit gehört zum Wesen der Erinnerung, für deren bild- und filmartigen Charakter sich die Künstlerin seit jeher interessiert.
Annatina Grafs Bleistiftzeichnungen üben einen besonderen Zauber aus: Auf den grobkörnigen Papieren lösen sich die Konturen der Formen auf, vergleichbar den Meisterblättern von Georges Seurat. Das Licht, das blosse Weiss des Blattes, erscheint innerhalb der randabfallenden Darstellungen fast immer als Binnenfläche, das Einzelmotive erkennen lässt. Zuweilen wird das Licht selbst zum Thema, das uns scheinbar aus der Bildtiefe entgegenstrahlt. Zuweilen erkennen wir eines der stark beschnittenen oder in ungewohnter Perspektive gezeigten Motive auch erst nach langer Betrachtung. Und in mancher Hinsicht erinnern die Blätter, die trotz ihrer berückenden Licht-Regie der Fläche und einem fein austarierten Ausgleich von Positiv- und Negativformen verbunden bleiben, an Vexierbilder.
Innerhalb der grau-silbernen Töne des Schluss-Saales bildet just das letzte Bild, das neben dem Ausgang der Ausstellung hängt, eine Ausnahme: Spot 1 (2014) ist ein farbiges Acryl-Bild eines kleinen Mädchens vor strahlend weissem Hintergrund. Das Strahlen und Blenden ist zugleich Thema des Bildes; und mit dem Titel Spot mag denn auch das Blitzlicht der Fotografin gemeint sein. Möglichweise sprechen die geschlossenen Augen des Mädchens, dessen Gesicht sich im Licht beinahe auflöst, aber auch für das blendende Licht eines sonnigen Tages, an dem das Kind mit blossen Füssen an der Hand eines anderen unterwegs ist. Tatsächlich bezieht sich das Bild wiederum auf eine Fotografie, die die Künstlerin von ihrer eigenen Tochter gemacht hat. An der Hand einer etwas älteren Spielgefährtin, die nur noch mit einem kleinen Teil des rechten Armes sichtbar wird, tritt das Kind ins Weite – und schon demnächst aus dem Bild. Denn die Figur des Mädchens ist ganz auf die rechte Bildseite gerückt, als wenn es im nächsten Augenblick verschwinden, aus dem Rahmen, aus der Gegenwart eines Kindernachmittags fallen müsste. Der Spot der Fotografin allein konnte den glücklichen Moment blitzschnell festhalten. Erst in der Malerei jedoch, einem besonders langsamen Medium, wird er auch verinnerlicht. Hierzu dient wiederum das Lasieren nach Grundfarben, die sich zu den schönsten Tönen verbinden. Unweigerlich stellt sich nochmals die Assoziation einer bunt schillernden Seifenblase ein, die im nächsten Augenblick im Licht zerspringen wird.
Das Bild des Mädchens führt aus der Ausstellung hinaus und gleichzeitig wieder in sie zurück. Denn es gleicht jenem andern Kind auf der Schaukel, das uns in Traversata begegnet ist. Und so wird aus diesem letzten Bild mit dem sprechenden Titel Spot kein Schluss, sondern ein neuer Übergang, der sich zum Zyklus schliesst.

Christoph Vögele