Annatina Graf

Interview Annatina Graf

Titel
Interview Annatina Graf
Datum
2017
Originaltext

«Sie wohnen direkt unter meinem Pariser Atelier. Nachts höre ich durch die schlecht isolierten Fenster ihre Stimmen. Ihr Zuhause ist die Strasse und ihr Rhythmus richtet sich nach den Geschäftsöffnungszeiten.»

Interview: Susanne Schneider und Daniel Fuchs

«Mes voisins inconnus» ist eine der neusten Bilderserien von Annatina Graf und während ihres Atelierstipendiums in Paris entstanden. Die Künstlerin setzt ihren konsequent verfolgten Stil fort: Sie thematisiert den Übergang vom Realen, Sichtbaren, dem Alltag in eine Welt des Traums, des Erinnerns, in einen entkörperlichten Zustand. Die Bilder scheinen zu verblassen, wirken schillernd, neblig, unscharf und fremd, entrücken. Grafs Werk ist geprägt von einem Arbeitsprozess mit verschiedenen Medien: Sie fotografiert Erlebnisse und Alltagssituationen, oft spontan, bearbeitet die Fotos elektronisch und überträgt die Bilder von Hand mit Stiften und Farben zum Beispiel auf Papier oder Leinwand. Auch bei den in Paris entstandenen Werken hat Annatina Graf diese mehrstufige Technik angewandt.

Frau Graf, können Sie den Begriff «inconnus» im Zusammenhang mit Ihrer Serie mit den Obdachlosen näher ausführen? Was beinhaltet er für Sie?

Inconnu heisst unbekannt. In Bezug auf meine Pariser Nachbarn bedeutete dies, dass ich sie täglich sah und hörte, sie jedoch nicht persönlich kannte. Meistens waren sie bereits am Schlafen, wenn ich an ihnen vorbeikam. Es gab einzelne, die grüssten, und es kam auch zu Gesprächen.

Sie sagen, dass das Thema Schlaf, das bereits Gegenstand Ihrer Reihe «Another World» war, mit der Serie «Mes voisins inconnus» eine neue Dimension erhalte. Sie begründen diese neue Dimension mit der «Realität des Ausgeliefertseins, der Schutzlosigkeit, die kaum auszuhalten ist.»

Die ersten Tage im Januar dieses Jahres waren extrem kalt. So kalt, dass ich auch in meinem Atelier fror … Die Kälte drang durch die spröden Fensterdichtungen, der Fussboden war so kalt, dass ich mir Pantoffeln kaufte und mich mit der Jacke ins Bett legte. Und draussen schliefen die Obdachlosen auf ihren Kartons. Hier wurde mir klar, dass ich in «Another World» diese Dimensionen nicht bedacht hatte. Damals war ich vielmehr von einer ‹poetischen› Betrachtungsweise des Schlafens ausgegangen. Wenn aber die Leute bei frostigen Temperaturen draussen nächtigen, kann ich dem nichts Poetisches mehr abgewinnen.

Gibt es allenfalls eine weitere Dimension darüber hinaus?

Der Titel «Another World» bezog sich auf die Welt des Traums, eben die andere, die Parallelwelt. Mit Blick auf die Obdachlosen birgt «Another World» zusätzlich eine gesellschaftspolitische Dimension. Man könnte meinen, schlafend seien wir alle gleich. Die Clochards schlafen, wir schlafen, und auch die Superreichen schlafen. Clochards, Flüchtlinge, Obdachlose – es gibt viele Menschen, die dieses Grundbedürfnis unter widrigen Umständen einlösen müssen.

Sie haben in Paris eine weitere Serie mit dem Titel «Mes voisins inconnus 2» gemacht. Was meint hier «voisins inconnus»?

Es genügte der Blick aus dem Fenster. Auch beim Flanieren auf den Strassen, beim Betreten eines Warenhauses oder Museums oder dem Besuch eines Konzertlokals waren Polizei und Militär präsent. Die Frage der Sicherheit und die Angst vor weiteren Terroranschlägen manifestiert sich in einer Kontrollsucht, die in Paris zum Alltag gehört, seit Frankreich am 13.11.2015 im Namen der Terrorbekämpfung den Ausnahmezustand ausrief.
Das Bild des Polizisten als ‹Freund und Helfer› wirkt dabei wie ein verblasstes Fragment aus früheren Zeiten, umso mehr seit im Februar vier Polizisten traurige Berühmtheit erlangten. Bei einer Verhaftung misshandelten sie einen jungen schwarzen Mann schwer. Die Affäre «Theo» brachte die Menschen in Rage,und es kam zu schweren Krawallen.

Sie erwähnen das Verblassen, das sich ja thematisch durch Ihr bisheriges Werk zieht. Wie haben Sie dieses Thema bei Ihren Paris-Serien technisch umgesetzt?

Das Grundprinzip ist dasselbe wie bei den meisten meiner Werke: Am Anfang steht die Foto, die ich am Computer bearbeite, und anschliessend zeichne und male ich diese von Hand. Darüber hinaus versuche ich, Bildaussage, Technik und Bildträger zu einer Einheit zu führen und erhoffe mir so eine Akzentuierung des Werks. Die Serie mit den Polizisten liegt auf mit Öl behandeltem Papier. Dieses erhält so eine Semitransparenz und weist auf das Flüchtige hin. Anfänglich träumte ich diese Polizisten. Die Serie zeigt die immer gleiche Figur mit verschiedenen Attributen und entwirft eine Gegenwelt. Ein Versuch, der gewalttätigen Erscheinung etwas Leichteres beizufügen. Bei der Serie mit den Obdachlosen ‹ruhen› die Farben auf ausgedienten Kartonschachteln, die ich im Abfall der Cité Internationale des Arts gefunden hatte und deren Schmutzspuren den gebrauchten Zustand erkennen lassen. Die Obdachlosen verwenden diese Kartons als Basis für ihre Schlafstätte.
Gemeinsam ist beiden Werkgruppen, dass ihre Bildträger sich im Laufe der Zeit verändern werden: Das mit Öl behandelte Papier vergilbt im Licht, und auch die Kartonschachteln werden ihr Aussehen mit der Zeit verändern, denn beide sind nicht lichtecht. Das Verblassen wird in diesem Falle zu einem «Nachdunkeln», das die verstrichene Zeit sichtbar macht und somit auch das Element des Erinnerns ins Spiel bringt.
Und schliesslich zeigt eine weitere Gruppe von «Mes voisins inconnus» liegende Skulpturen aus dem Musée d’Orsay. Diese vielbeachteten Figuren, in Stein gehauen, schweigen sich über ihre Geschichte weitgehend aus. Ich habe sie mit mit Silberpartikeln versetzter Tusche auf Kalkpapier gemalt. Die Arbeiten sind relativ gross, 200 x 75 Zentimeter. Beim Malen beginnt das Papier sich zu wellen und bildet eine unregelmässige Oberfläche mit kleineren und grösseren Erhebungen. Die Silberpartikel sammeln sich in kleinen Pfützen und trocknen dort langsam aus. Hier ist das Verblassen sofort erfahrbar, da sich die Arbeiten je nach Blickwinkel der Betrachtenden und abhängig vom Lichteinfall unterschiedlich klar zeigen.

In Ihren Werken vor Paris waren Ihr ganz privates Umfeld, sprich, die beiden Kinder, Sie selber oder, wie in «Tracce d’amore», der SMS-Verkehr mit Ihrem Ehemann wiederkehrende Motive. Dies ist bei «Mes voisins inconnus» nicht der Fall – kann es ja auch in gewisser Weise gar nicht sein.

Es ging mir nie darum, mein persönliches Umfeld darzustellen, auch wenn alles, was meinen Blick fesselt, auf einem persönlichen Filter basiert, der geprägt ist von bisher Erlebtem, von Vorlieben, Abneigungen – kurz der eigenen Geschichte. Die Bilder lassen diesen persönlichen Kontext zwar vermuten, zeigen aber nie die Geschichte, die dahinter steckt. Die Fotos meiner Kinder ähneln anderen Fotos von anderen Kindern. Die Fotos, die ich mit meinem Mann per Mobile ausgetauscht habe, ähneln unzähligen anderen Bildern, die andere Leute miteinander auf diesem Kanal austauschen. Mich interessieren vielmehr Wirkung und Magie, die solche Bilder entfalten können. Meine Methode ist bis heute dieselbe geblieben: Ich betrachte, was mich umgibt. Und in Paris zählten unter anderem die Obdachlosen und die Sicherheitskräfte dazu.

Hat die Zeit in Paris bewirkt, dass Ihr künstlerisches Schaffen in eine neue Phase kommt?

Die neue Schaffensphase ist der Traum aller Kreativen. Aber letztlich weiss man nie so genau, wo man steht oder steckt: auf dem Sprungbrett oder in der Sackgasse. Ich glaube, dass diese Unsicherheit auch eine grosse Antriebskraft in sich bergen kann.

Sie nehmen sich in Ihrem Werk immer wieder dem Erinnern an. Erinnern setzt Distanz voraus. Lässt sich bereits sagen, ob Ihre Pariser Erinnerungen Thema sein werden für Ihr künftiges Schaffen hier in Solothurn?

Erinnern ist trügerisch. Das Betrachten von Fotos, das Hören von Musik oder das Wahrnehmen eines bestimmten Geruchs können Erinnerungen evozieren. Diese sind jedoch nie statisch und zeigen immer wieder andere Aspekte eines Ereignisses. Ausserdem verblassen sie mit der Zeit. Und dann gibt es Dinge, die wir schlichtweg vergessen – aus Selbstschutz. Sich mit der Erinnerung zu beschäftigen, bedeutet also auch, sich mit der eigenen Unzulässigkeit zu beschäftigen. Das Ungewisse in Kauf zu nehmen und sich über Überraschendes zu freuen. Deshalb ist es heute schwierig vorherzusagen, in welcher Form Pariser Erinnerungen später in mir wieder wach werden und ob, respektive wie sie sich in neuen Werken abbilden werden.

Hat die Metropole Paris Sie künstlerisch besonders beflügelt, Ihnen eine Inspiration gegeben, die Sie in der (kleinräumigen) Schweiz nicht gefunden hätten?

Auf jeden Fall! Es war befreiend, berauschend! Die ersten zwei Monate vergingen wie im Flug. Ich stürzte mich in die Strassen, Boulevards, Ausstellungen, Konzerte – atemlos und begeistert. Und allein schon meine Residenz an der Seine zusammen mit 320 Künstlerinnen und Künstlern aller Sparten aus der ganzen Welt war ein einzigartiges Universum! Auch hatte ich vor Paris noch nie die Möglichkeit, mich über eine so lange Zeit mit mir und meinem Werk zu beschäftigen. In der Schweiz bin ich stark eingebunden in berufsbedingte Strukturen, und meine künstlerische Arbeit muss sich diesen unterordnen. Das einzig Schwierige an Paris war ich selbst: mich auszuhalten war nicht immer berauschend. In Solothurn empfand ich den Mangel an Zeit oft als grosse Einschränkung. In Paris wurde mir bewusst, dass dieser Mangel oft nur ein Vorwand gewesen war, mich bestimmter Themen nicht eingehender anzunehmen. In Paris konnte ich dem nicht mehr ausweichen.