Annatina Graf

2006 «Die Erinnerung als Lieblingsbild – Annatina Graf, Videoinstallation Porträts (2005)»

Titel
2006 «Die Erinnerung als Lieblingsbild – Annatina Graf, Videoinstallation Porträts (2005)»
Datum
2006
Beschreibung

Die Erinnerung als Lieblingsbild

Zu Annatina Grafs Videoinstallation Porträts (2005)

Die Videoinstallation Porträts hat Annatina Graf im letzten Jahr für die Sammlungsausstellung orten des Kunstmuseums Solothurn geschaffen. Die Arbeit ging vom Wunsch aus, das Museum als lebendigen Begenungsort zu zeigen. Nich die Kunst selbst, sondern ihr notwendiger Gegenpart, ihre Betrachterinnen und Betrachter, sollten dabei im Zentrum stehen. Hierzu ging die Künstlerin von Persönlichkeiten aus, die eng mit dem Kunstmuseum Solothurn und seiner Sammlung verbunden sind.

Obwohl Grafs Portäts auf den ersten Blick dokumentarisch wirken und vom vertrauensvollen Umgang zwischen der Künstlerin und ihrem Gegenüber zeugen, werden darin grundsätzliche Fragen über Bild und Erinnerung, über Selbstdarstellung und Porträt gestellt. Die acht Kurzfilme von vier Frauen und vier Männern sind formal von grösster Schlichtheit und Konzentration, umso intensiver wirken Ausdruck und Intimität. Zentral ist der Dialog, nicht jedoch zwischen der Filmerin und ihrem Gegenüber (denn nur ganz selten ist im «Off» die Stimme der Künstlerin zu hören), sondern zwischen den Porträtierten und den von ihnen beschriebenen Lieblingsbildern, den erinnerten Erlebissen aus dem Museum. Dazu kommt in Annatina Grafs installativ präsentierter Arbeit der Dialog zwischen den filmischen, auf Flachbildschirmen gezeigten Videos und den gemalten Bildnissen aus der Museumsammlung. Bei der Erstpräsentation waren die Portäts auf drei Bildschirmen im zentralen Oberlichtsaal verteilt, wo sie von Dutzenden gemalter Porträts aus den verschiedensten Epochen umgeben waren. Filmische und gemalte Bildnisse begegneten sich. Grafs Werk wurde dadurch nicht nur zu einem Bild über Bilder und das Betrachten von Bildern, sondern ebenso zu einer Beschätftigung mit der Erinnerung als das über die Jahre verdichtete, sprich «innere» Bild.

Annatina Graf ist in vieler Hinsicht so vorgegangen wie es viele ihrer Malerkollegen vor ihr getan haben: Sie hat die Porträtierten sich selbst darstellen lassen. Das Gegenüber hat nicht nur sein Lieblingsbild, sondern zugleich den Ort der Filmaufnahmen bestimmt. Präsentiert sich die Kulturmanagerin vor ihrer reich bestückten Bibliothek, zeigt sich die Tochter eines Künstlers vor ihrem gemalten Porträt als Mädchen, einem Bild im Bild. Der inhaltlichen Konzentration entspricht die räumliche: Während der ganzen Drehzeit wurden die Dargestellten aus derselben Einstellung gefilmt; die Kamera befand sich jeweils auf einem Stativ. Zwar waren die wichtigsten Fragen vorher abgesprochen worden, hernach liess die Künstlerin ihre Gastgeberinnen und Gastgeber jedoch frei und möglichst ununterbrochen sprechen. Daher ergibt sich beim Betrachten der Filme zuweilen der Eindrucke eines inneren Monologs, der die Intimität der Bilder noch verstärkt. Das ursprüngliche Filmmaterial wurde oftmals rigoros verkürzt, um die Kraft der dichtesten Momente zu erhalten. Gleichwohl wirken die Porträts als integrale, ebenso zufällige wie berührende «Würfe». Bemerkenswert sind die Blicke, die nicht nur der Kamera rsp. der Künstlerin gelten, sondern zuweilen auch einer Postkarte mit dem betreffenden Lieblingsbild. Mit unseren eigenen Blicken erleben wir den Blick eines anderen Menschen auf ein Kunstwerk, das wir nicht sehen können, das uns aber in persönlichen Worten evoziert wird. Dieses Nebeneinander von Realitätsebenen, von Kunst und erlebter Wirklichkeit, von Gestern und Heute, gehört zu den besonderen Reizen von Grafs Portäts, die in zeitgemässer Weise an die grosse Tradition der Bildniskunst anknüpfen. Der lebendige und respektvolle Austausch, der die Begegnung zwischen dem Maler und seinem Modell, der Filmerin und ihrem Gegenüber ausmacht, unterstreicht den allgemeinen Wert des Dialogs, der in Annatina Grafs Schaffen auf allen Ebenen spürbar wird.

Die Porträts, die nach dem Ankauf für unsere Sammlung auch künftig zwingend mit gemalten Bildnissen unseres Museums als Installation präsentiert werden sollen, unterstreichen in schlagender Weise die Paradoxie des Bildes zwischen simultaner Wirkung und sukzessiver Entstehung rsp. Wahrnehmung. Obwoh auch die gemalten Bilder nicht «auf einen Blick» entstanden sind, können wir die meisten auf einen Blick wahrnehmen. Annatina Grafs filmischen Porträts dagegen können wir, sehend und hörend, während neun, ja zuweilen vierzehn Minuten mit Faszination folgen – ohne dass wir uns je von ihnen abwenden wollten. Auf den ersten Blick (und hier zeigt sich eine zweite Paradoxie) wirken jedoch auch Grafs Bildnisse wie «stills», sind die Filme doch in ihrem Ruhe-Status auf ein minimales Mass von Bewegung verlangsamt. Erst ein Tastendruck setzt sie in normale Geschwindigkeit; und erst das Aufsetzen der Kopfhörer lässt uns das Erzählte auch hören. So können uns Graf Porträts letztlich motivieren, nicht nur vor den filmischen, sondern auch vor den gemalten Bildnissen länger zu verweilen, um ihre «Geschichten» zu vernehmen, in den Blicken der Dargestellten zu lesen. Denn auch die Gemälde sind – wie die Erinnerung – ein aus vielen Einzeleindrücken geronnenes Bild. Das Verweilen ermöglicht gleichsam eine «Verflüssigung», einen Strom von Assoziationen. Das Fliessen der Zeit, im Motiv des wechselnden Lichtes oder strömenden Wassers, der stetig wechselnden Wasseroberfläche thematisiert, hat Annatina Graf verschiedentlich beschäftigt. Daher wächst ihre grosse Video-Installation Porträts ganz stimmig aus ihrem generellen Interesse für Fragen der Bewegung, des Lebens schlechthin.

Die Lebensähe, die bei Annatina Grafs Porträts unmissverständlich von dokumentarischen, sprich «wirklichen» Bildern ausgeht, trägt zur Relevanz und emotionalen Wirkung des Werkes bei. Die menschlichen Seiten, die so genannt «weichen Faktoren» sind auch für mich selbst, der mit den Werken unserer Sammlung seit Jahren arbeiten darf, von primärer Bedeutung: Nur was mich innerlich bewegt, kann auch im Kopf etwas bewegen. Darum ist der Umgang mit einer Sammlung, ihr Hängen und Neuhängen, eine Form des Wahrnehmens und Einfühlens, letztlich aber des Interptretierens. Im Zusammenhängen, wie dies in Annatina Grafs installativem Einbezug gemalter Bildnisse aus unerer Sammlung vorgemacht wird, können inhaltliche Zusammenhänge erkannt werden. Auch aufgrund dieses dialogischen Denkens gehört Annatina Grafs Videoinstallation Porträts zu meinen persönlichen «Lieblingsbildern».

Christoph Vögele

Partizipierende
  • Herausgeber:in:
  • Edition Hirschkuh
  • Autor:in:
  • Christoph Vögele
  • Fotograf:in:
  • Annatina Graf