2007 «Im Lichte der Erinnerung»
- Herausgeber:in:
- Edition Hirschkuh
Im Lichte der Erinnerung
Was es so attraktiv macht, Annatina Grafs Arbeit über Jahre hinweg zu verfolgen, ist mitunter ihre Gabe, immer wieder überraschende Bildfindungen zu generieren, die jedoch intuitiv-assoziativ wie inhaltlich-gedanklich starke Links zum übrigen Werk aufweisen. Werk um Werk in Gedanken nach Gemeinsamkeiten absuchend leistet das Gehirn eine vergleichbare Arbeit, wie wenn man sich Stationen seines Lebens in Erinnerung ruft. Aus der Summe der Bilder versuchen wir, eine zusammenhängende, in sich einigermassen stimmige Identität herauszufiltrieren: das eigene Ich. Nach dem Philosophen Paul Ricoeur erlebt sich das Ich ständig als „im Fluss der Zeit“ und sich als denjenigen, der sich erinnert und dabei doch immer derselbe bleibt. („Gedächtnis, Geschichte, Vergessen“, München 2004). Sich erinnern heisst, emotional gefärbte, an Ort und Zeit gebundene Wahrnehmungen aus dem Gedächtnis wieder zu vergegenwärtigen. Vladimir Nabokov schrieb dazu in seiner Autobiographie „Erinnerung, sprich“: „Wenn ich meine Kindheit erkunde (was nahezu der Erkundung der eigenen Ewigkeit gleichkommt), sehe ich das Erwachen des Bewusstseins als eine Reihe vereinzelter Helligkeiten, deren Abstände sich nach und nach verringern, bis lichte Wahrnehmungsblöcke entstehen, die dem Gedächtnis schlüpfrigen Halt bieten“.
Ohne Licht gibt es kein bildhaftes Erinnern; das Gehirn speichert Wahrnehmungen, visuelle wie auch andere. Wer Kunst macht, denkt dabei auch über die Verlässlichkeit von Wahrnehmungen und deren Umsetzung in erinnerungswerte Bilder nach. Annatina Graf sagt, dass es sie gar nicht gäbe, könnte sie keine Kunst machen. Könnte sie sich nicht erinnern, gäbe es sie als Persönlichkeit ebenso wenig.
Die umfangreiche Serie „Erinnern“ zeigt in schimmernd unscharfen, blau-silbrigen Bildern Kinderszenen. Beim Betrachten fühlt man sich fast wie ein Voyeur, der fremde Fotoarchive durchforstet und dabei auf alte Glasnegative trifft, deren Motive sich beim Anschauen am Licht innert kurzer Zeit verflüchtigen. Als Vorlagen zu den Acrylbildern dienten ein paar Jahre alte Fotos ihrer Kinder. Wenn es nun aber einfach um Kinderportraits gegangen wäre, hätten die Kinder Andri (Jahrgang 1991) und Laura (Jahrgang 1995) Modell sitzen können. Annatina Grafs Motive gehören in der Regel ihrer unmittelbaren Lebenswelt an. Doch der Malvorgang an und für sich ist ihr schon ein existentielles Bedürfnis. Malt sie etwa ihre eigene nackte Haut, so tut sie dies einerseits, weil diese nun einmal jederzeit zur Verfügung steht, andererseits verdoppelt sich dadurch im Malakt die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich.
So ähnlich verhält es sich mit den Bildern ihrer Kinder in der Serie „Erinnern“. Sie ging von der Grundfrage aus, welche Bilder sie besonders berühren. In erster Linie kam sie dabei auf Familienbilder. Und wie es einem so geht beim Betrachten von Familienalben: Jedes Bild weckt Erinnerungen und mit allen diesen Nahestehenden, mit Familienmitgliedern und engen Freunden, teile ich Erinnerungen und gefühlte Gemeinsamkeit. Sterben uns nahe stehende Menschen, stirbt ein Teil unserer eigenen Geschichte mit ihnen, da gewisse Erinnerungen an uns und Vorstellungen über uns mit dem Tod des Erinnernden ausgelöscht werden.
Jeder hat aber auch schon die Erfahrung gemacht, dass Erinnerungen trügerisch sein können. Man sieht zwar vor dem inneren Auge ein Bild, versucht man aber, Details genauer zu erkennen, verblasst das Bild mehr und mehr. Diese Erfahrung floss auch in Annatina Grafs neueste Bilder ein. Die mit hellen Blautönen und Aluminiumfarbe gemalten Bilder verändern sich je nach Lichteinfall und Standort der Betrachterin. Je nach Blickwinkel kann man die Motive gut erkennen oder gar nicht. Künstlerisch knüpft Annatina Graf an die Bilder um die Serie „Wasserzeichen“ von 2004 an, die ausgehend von Aufnahmen ihrer schwimmenden Tochter oszillierend-mysteriöse Wasserlandschaften zum Thema hatten. Dort verwandte sie auch erstmals Aluminiumfarbe für die Glanzreflexe. Der Blick ins Wasser weckt gleich wie der Blick in einen locker bewölkten Himmel Erinnerungen und Assoziationen. In der Überlagerung verschiedener Bedeutungsebenen verschieben sich die Bilder „Erinnern“ von Annatina Grafs individuellem Gedächtnis ins kollektive Gedächtnis, wodurch sie auch für den unbeteiligten Betrachter relevant werden.
Die Serie „Idylle“ behandelt ebenso wie „Erinnern“ eine an sich ganz persönliche Thematik. Über mehrere Tage hinweg hatte Annatina Graf eine Videokamera fest in ihrer Küche installiert mit Ausblick auf die Fensterfront. In regelmässigen Abständen nahm die Kamera kurze Sequenzen von dem, was sich in der Küche abspielte, auf. Somit entstand etwas wie ein Blick von aussen, da sich dank dieses Verfahrens die Bilder – anders als bei den Familienalbumbildern – nicht stellen lassen. Wikipedia definiert das Idyll folgendermassen: „Der Ausdruck „Idyll“ bezeichnet heute harmonisch verklärtes ländliches Leben. Man meint damit meist ein Bild oder einen Zustand, die auf den Betrachter beschaulich und friedlich wirken. Das Wort stammt vom Griechischen eidyllion und bedeutet ursprünglich ‚kleines, eigenständiges Gedicht’“. Fast ist man geneigt anzunehmen, dass die Künstlerin selbst ob des Resultates ihrer Untersuchung erstaunt war, ist das Idyll doch nicht unbedingt ein Kernthema der Gegenwartskunst. Da braucht es doch einiges an Mut und Selbstvertrauen, in diesen familiären Szenen im Gegenlicht etwas zu sehen, was zwar latent immer vorhanden ist, was man sich aber in einem anderen Raum und in anderem Kontext oft kaum einzugestehen getraut: dass es einen gelegentlich ganz schön glücklich machen kann, wenn das Leben ganz unspektakulär im täglichen Trott vor sich hin fliesst. Wie „kleine, eigenständige Gedichte“ wirken denn auch die „Idyllen“, diese mittels Licht geschaffenen, intimen Stimmungsräume. Beim Sichten des Filmmaterials war Annatina Graf aufgefallen, dass im Grunde das im Tagesverlauf wandernde Licht der Hauptprotagonist in der Küche war, dass die Menschen dort hingegen im Grunde austauschbar wären, unterscheiden sich ihre Handlungen doch kaum von Handlungen anderer Menschen in anderen Küchen.
Wieder aufgenommen wird das Erinnerungsmotiv mit der am Computer generierten Arbeit „Im Lichte der Erinnerung“. Ausgehend von den an Vexierbilder erinnernden Tapetenbildern, an welchen sie auch schon seit einigen Jahren arbeitet, schuf Annatina Graf eine Projektion, bei welcher vor dem Hintergrund der Umrisszeichnung eines Tapetenmusters wie von Geisterhand gezeichnete Kinderbilder langsam erscheinen und, sobald man sie genauer erkennen kann, wieder verschwinden. Die Reihenfolge der Bilder kann gesteuert erfolgen wie die willentliche Gedächtnisleistung oder zufällig in Analogie zur Erinnerungsarbeit, die eher assoziativ denn nach Regeln einer Logik funktioniert. Das Tapetenmuster wirkt dabei – vergleichbar dem Wasser und den Wolken - gleichsam als Assoziationsbeschleuniger. Wie hiess es doch in einem Sinngedicht von Friedrich Haug: „Gedächtnis haben kalte Seelen; die fühlenden – Erinnerung.“