Annatina Graf und Franz Gratwohl
Vernissagerede von Annelise Zwez, Kunstkritikerin, Twann
Vorbemerkung: Dieser Text enstand aufgrund einer intensiven und spannenden Diskussion mit den Künstlern im Atelier von Annatina Graf in Solothurn (23. Okt. 2009)
Das Ausstellungsteam des Gluri Suter Huus hat zuweilen einen siebten Sinn. Wir haben uns zu Beginn des Gesprächs überlegt, was wohl ausschlaggebend gewesen war, die Solothurner Multimedia-Künstlerin und den Zürcher Performance-, Video- und Objekt-Künstler für eine gemeinsame Ausstellung nach Wettingen einzuladen. Denn die beiden waren noch nie miteinander in Erscheinung getreten, kannten sich nicht. Es kam uns dieselbe Generation in den Sinn Annatina Graf ist 1965 in Chur, Franz Gratwohl 1967 in Staufen bei Lenzburg geboren ferner das Figürliche hier wie dort, das Performative, das Switchen von einem Medium ins andere…. doch sehr bald redeten wir mehr von «anders» und «nicht so», fügten aber gleichwohl immer wieder «und doch» hinzu.
Dass jetzt in der realisierten Ausstellung alles noch viel spannender sein würde, konnte das Team rund um Hansueli Trüb nicht wissen. Siebter Sinn eben. Denn unabhängig voneinander realisierten Annatina Graf und Franz Gratwohl je eine auf schwarz-weiss reduzierte Video-Arbeit, die auf das Gesicht fokussiert. Beide Videos haben nicht im engeren Sinn filmischen Charakter. Sie sind vielmehr auf Ähnlichkeit und Wandel innerhalb gesetzter Parameter ausgerichtet. Und sie sind beide in massgeblicher Art und Weise von zielgerichteter Arbeit am Computer gekennzeichnet.
Indem sich die beiden Künstler bei einer Begehung der Galerie-Räume darauf einigten, diese Arbeiten in einer Vis-à-Vis-Situation einander gegenüber zu stellen, lösen sie nun die zentralen Fragen nach der Arbeits-, Denk- und Umsetzungsweise der beiden Kunstschaffenden aus.
Zunächst ganz konkret: Annatina Graf lässt in «Faces» nach Farbwerten aufgeschlüsselte Fragmente von Aufnahmen ihres eigenen Gesichtes mit dem «Special Effect» des sogenannten «Morphing» stufenlos und von sphärischer Musik unterlegt ineinander übergehen. Dadurch erhält dieses im Kern eigentlich klassische Porträt mit Kopf und Schultern immer wieder neuen Ausdruck. Wobei die Wirkung durch die Teilauflösung des naturalistischen Bildes in fleckenartige Hell-Dunkel-Verläufe maskenartigen Charakter hat, der sowohl theatralisch wie psychisch interpretiert werden kann.
Während man bei Annatina Graf ohne Informationen nicht restlos sicher ist, ob reale Video-Aufnahmen an der Basis stehen oder ob die Bilder gänzlich am Computer generiert sind, scheint es einem bei Franz Gratwohl eindeutig, dass inszenierte Videosequenzen die Grundlage bilden, auch wenn die formale Erscheinung mindestens so abstrakt ist wie bei Graf. Das bringt es automatisch mit sich, dass Franz Gratwohls Arbeit körperlicher wahrgenommen wird. Wir setzen die beiden einander begegnenden Profile sehr schnell zu uns selbst in Beziehung. Eventuell beginnen wir, die Black Box macht uns ja glauben, wir seien allein im Raum, selbst die Muskeln unseres Gesichtes zu bewegen und werden uns so erst so richtig gewahr, was die Bilder ausdrücken: das Aggressive im Vorschieben des Unterkiefers, das Abwehrende im Zurückziehen.
Es gibt noch viel zu den beiden Videos zu sagen, hier vorläufig nur noch ein Punkt, der gleichsam überleitet zu den weiteren Arbeiten der beiden in der Ausstellung. Der Vergleich zwischen den beiden Videos weist bei Annatina Graf sehr schnell auf den Hintergrund der Künstlerin als Malerin. Es ist ja nicht so, dass dieses «Morphing» automatisch vor sich geht, sondern Aspekte von Malerei simuliert. Denken sie an den Kubismus, der Oberfläche in Facetten dekonstruiert, denken sie an den Expressionismus, der dem Pinsel erlaubt, Gefühle in Form zu bringen! Statt mit dem Pinsel, «malt» Annatina Graf mit den vom System berechneten Hell-Dunkel-Werten, indem sie unter den vorbereiteten Versatzstücken das eine oder andere wählt und beobachtet, ob die Veränderung die Arbeit vorantreibt oder in eine Sackgasse führt. Vieles sei spielerisch, sagt sie, aber zugleich lenkt natürlich die subjektive, persönliche Empfindung den Prozess. Sie lässt bedrohliche Wirkung zu, glättet Furchterregendes, treibt harte Kontraste voran oder tendiert zur Sanftheit.
Demgegenüber verdeutlicht die Arbeit von Franz Gratwohl in gleichem Mass – nur ganz anders – den Hintergrund als Performer, der mit dem Körper arbeitet, die Mimik, die Haltung als Ausdrucksmittel nutzt, um Inhalte zu formulieren. Dabei ist es typisch für ihn, den Humor immer mit im Boot zu haben. So hat er mit den an seinem Experiment Teilnehmenden geübt und sich versteckt darüber amüsiert, dass seine Aufgabestellung keine einfache Kontrolle am Spiegel zulässt, weil man sich selbst ja nur mit mindestens zwei Spiegeln im Profil sieht. Es sollte ja auch Bewusstsein einfliessen, nicht einfach Pose. Nicht nur einmal musste er als Trick einfliessen lassen, die Probanden sollten beim Kinn Vorschieben an einen verhassten Chef denken und beim Zurückziehen an etwas Ekelerregendes – eine Schnecke am Salat vielleicht. Pointiert nennt Franz Gratwohl die Arbeit einem Abzählreim gleich «und raus bist du».
In der Analyse ergibt das bei Annatina Graf etwas Fluides, sich ständig im Fluss Befindliches, Offenes, das letztlich von jedermann und jederfrau anders erlebt wird, während bei Franz Gratwohl die Fokussierung, die Konzentration auf klar definierte und mit Abweichungen repetierte Formen das emotionale Spannungspotential enthält. Interessant ist, wie wortlos wir «Faces» von Annatina Graf gegenüberstehen und wie sehr wir das Bedürfnis haben die Arbeit von Franz Gratwohl zu kommentieren.
Gehen wir nun zu den Arbeiten im ersten Stock des Hauses, so gilt es das bereits Erkannte mitzunehmen, auch wenn hier ganz andere Arbeiten ausgestellt sind. Annatina Graf zeigt Malerei, Franz Gratwohl ein raumgreifendes Objekt. Hier wie dort ist der Wunsch das Wesen Menschen zu ergründen Antriebsfeder, doch die Fährte, die sie legen grundverschieden.
Annatina Graf geht – wie im Video und wie in zahlreichen anderen Werkgruppen – von Fotos aus. Das ist heute eine gängige Praxis, oft um durch Projektion das Zeichnen zu übergehen; das mag auch hier mitspielen, aber wichtiger ist, dass die Fotos als Fotos Teil unseres heutigen Lebensstiles sind, der sich im Extremfall stärker durch Abbilder als durch Realbilder kennzeichnet. Alles ist Pose. Auch die jungen Mädchen, die sich im Photomat in Szene setzen, wollen sich als Bilder sehen, nicht als Menschen fotografisch ergründen. Es sind die Rollenspiele des Teenager-Alters. Nur am Rande sei angemerkt, dass dies im Kern nichts Neues ist, der Photomat schon Ende der 1950er-Jahre heimlicher Ort für die Dokumentation eines Kusses war, wenn auch vieles rundherum seither anders geworden ist.
Annatina Graf nimmt die inszenierten Schnappschüsse, projiziert sie auf die Leinwand und malt sie nicht naturalistisch, sondern reduziert auf Lichtwerte, dem Effekt der Vergrösserung folgend unscharf; so, dass sie die Betrachtenden zuweilen erst auf den zweiten Blick in Raum und Realität zurückversetzen können. Damit führt sie eine fiktive, eine zeitliche und eine emotionale Ebene ein. Sie malt die Bilder als wären sie ein Tagtraum, als wären sie die Erinnerung der Malenden an ihre eigene Jugend, als wären es die Mädchen, die in 30 Jahren auf ihre Teenager-Zeit zurückblicken. Die Bilder verlieren in der Umsetzung an Individualität, werden Teil von etwas Kollektivem, öffnen sich den Vor- und Rückwärtsträumen von uns allen.
Sehr viel materieller präsentiert sich die Arbeit von Franz Gratwohl, obschon sie gar nicht sooo weit weg ist von den Bildern erneut: Es ist eine spannende Kombination, diese Ausstellung. Franz Gratwohl gelingt es auch in seinem Mehrfiguren-Objekt Performance in eine andere mediale Präsentationsform überzuführen. Das ist nicht selbstverständlich. Es gibt viele Performance-Künstler, die nie den Weg vom aktiven Tun zur Repräsentation im Galerie- oder Museumsraum finden. Ein anderes positives Beispiel wäre Victorine Müller mit ihren Luftskulpturen aus Polyäthylen.
Es ist überraschend wie spielend wir Kleider als Figuren akzeptieren und ihnen Beweglichkeit und Lebendigkeit zuordnen. Die Dreidimensionalität, das Beanspruchen von Raum stellt sie an unsere Seite. Insofern ist auch zunächst nicht klar, wie weit wir des Künstlers Spiel mit Rohren als lustig empfinden wollen oder ob Assoziationen zu «durchbohren» genau das verhindern. Vielleicht hilft der Satz eines Comic-Künstlers, der einmal sinngemäss sagte, er liebe Comic, weil seine Figuren die schlimmsten Erlebnisse haben könnten und trotzdem schmerzfrei weiterlebten.
Franz Gratwohl hat seine Raum-Rohr-Tänzer so konzipiert, dass die Besucher hineinschauen können und da und dort dank unerwarteter Lichteinfälle ein wenig in sie hinein respektive durch sie hindurch sehen können. Was treibt den Künstler, was treibt die Besucher an? In den Menschen hineinzuschauen ist ein uralter Wunsch, der mindestens bis in die Renaissance zurück zu Experimenten verschiedenster Art führte. In der zeitgenössischen Kunst sind es oft Kombinationen von Kunst und Wissenschaft, die massgebend sind – man denke etwa an Mona Hatoums Reise durch den Körper. Bei Franz Gratwohl geht es weniger um das Wunder Mensch und den verborgenen Sitz der Seele, sondern fast schon ein bisschen zynisch um die Leere in diesen Figuren, um das banale hinten wieder Hinaussehen, um das Auffädeln von Figuren an einem einzigen Rohr, um eine Art Kanalsystem, an dem alle hängen. Das heisst um das Ambivalente, das die anfänglich erwähnte Doppelbödigkeit ausdrückt.
Im Vergleich der beiden Hauptarbeiten im unteren Raum sehen wir also zwei forschende Positionen, die äusseren und inneren Phänomenen des Heute auf der Spur sind. Spannend ist, dass es diesmal eher die Bilder von Annatina Graf sind, die uns zu wortreichen Kommentaren anregen, während uns Franz Gratwohls Objekt-Performance-Arbeit ins Dilemma einer Stellungnahme zwischen verschiedenen Sichtwinkeln versetzt.
Weitere Werke – das «Faultier» draussen vor dem Haus, die malerischen Umsetzungen von Annatina Grafs Video im Treppenhaus und die Reminiszenzen an eine «Modeschau» von 10-Jährigen an einer Geburtstagsparty zeigen, dass die Ausstellung nicht Solitär–Arbeiten sind, sondern in den Kontext umfangreicher Werke gehören.