Annatina Graf

2015 «Silberstreifen der Erinnerung»

Kathleen Bühler. «Silberstreifen der Erinnerung». In: «Annatina Graf. Traversata». Verlag für moderne Kunst, Wien. 2015.

Titel
2015 «Silberstreifen der Erinnerung»
Datum
2015
Beschreibung

Silberstreifen der Erinnerung

„All the myths of everyday life are stitched together form a seamless envelope of ideology, the false account of the workings of the world.“ Martha Rosler, 1977

Die Beschäftigung mit dem Alltag in der Kunst hat seit den Neunziger Jahren wieder Konjunktur. Obwohl schon im 17. Jahrhundert in der Genremalerei häusliche Szenen allseits beliebte Motive waren, entpuppte sich das Häusliche nach und nach als Domäne der Künstlerinnen. Dies entsprach einerseits bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert dem hauptsächlichen Wirkungsbereich der Frauen und war andererseits – wie der feministische Slogan „the personal is political“ zum Ausdruck bringt – ein Mikrokosmos, in dem sich der politische und gesellschaftliche Makrokosmos spiegelt und untersuchen lässt. In den Neunziger Jahren wuchs das Bewusstsein, dass der banale Alltag der gemeinsame Erfahrungsbereich einer zunehmend diversifizierten Gesellschaft geworden ist, der als Thema sowohl von Künstlerinnen wie Künstlern aufgegriffen wird. Es zeigte sich, dass im Alltäglichen und Unspektakulären Stimmen wahrnehmbar sind, welche ansonsten vom dominanten Diskurs und der herrschenden Ideologie überdeckt werden. Da Alltagsgeschehen universal ist – jeder erlebt Alltag, wenngleich nicht überall auf die gleiche Weise –, wirkt es authentisch und demokratisch. Es betrifft jeden und ist selten spektakulär. Kunstschaffende, die sich mit dem Alltag beschäftigen, signalisieren daher, dass sie den Dingen nahekommen wollen, in die Welt eintauchen im Gegensatz zum distanzierten Beobachten. Sie misstrauen der grossen, heroischen Geste, indem sie die kleinen alltäglichen Nichtigkeiten aufgreifen. Ausserdem verrät die Auseinandersetzung mit dem Alltag die alte Sehnsucht, Kunst und Leben miteinander zu vereinen.

Es war auch in den Neunziger Jahren, als Annatina Graf der Kunst ernsthaft nach zu gehen begann und zugleich ihre beiden Kinder zur Welt brachte. Erstmals hatte sie eine passende Ateliersituation, um sich intensiv ihrer Kunst zu widmen und ihre Malerei entschieden vorwärts zu treiben. Die Entwicklung ihrer Kunst lief damit parallel zu derjenigen ihrer Kinder und so war es nur eine Frage der Zeit bis diese als Sujet in Grafs Werken Eingang fanden. Dies begann anfangs des neuen Millenniums mit einigen Serien, in denen die Künstlerin Fotos der Kinder als Vorlage nutzte. Der Rückgriff auf privates Bildmaterial war damals nichts Ungewöhnliches zumal in der Gegenwartskunst im Rahmen des Interesses am Alltag auch ein starker Trend zum Privaten und Amateurhaften herrschte. Die ungekünstelten Aufnahmen der Freunde und Partys bei Nan Goldin (*1953), die ungeschönten Schnappschüsse der Eltern von Richard Billingham (*1970) oder Annelies Štrbas (*1947) unscharfe und unzentrierte Fotografien ihrer Kinder wurden als Hort neuer Wahrhaftigkeit und Echtheit wahrgenommen. Nur in den zufälligen Bildfindungen, so schien es, war das Authentische zu finden, das nicht inszeniert, sondern auf dem wirklichen Leben basiert und damit als dessen Spur besondere Glaubwürdigkeit beanspruchen konnte. Die mangelnde Kunstfertigkeit, die sich in der Fotografie in schiefer Komposition, partieller Unschärfe, Überbelichtung und greller Farbigkeit äusserte, garantierte Ausdruckstärke und Emotionalität. Wie wir heute wissen, kann auch das Amateurhafte als Stil einstudiert werden. Doch begannen zu jener Zeit Bilder, welche bisher zum privaten Zweck aufgenommen wurden und sich an familiäre Erinnerungsmedien wie das Fotoalbum, das Home Movie oder allgemein Ferienfotos anlehnten, einen grossen Einfluss auf die Kunst auszuüben.

Erinnerungsbilder
Annatina Graf kümmerte sich weder um die Trends der Neunziger Jahre noch verfolgte sie die Fachdiskussionen um Wahrhaftigkeit und Authentizität. Sie hatte sich in ihrer Malerei jahrelang mit Figuren und Köpfen beschäftigt und erschloss mit den privaten Schnappschüssen ihrer Kinder, nachdem sie 2003 auch erste Erfahrungen mit Video gesammelt hatte, ein neues Bildreservoir. Um sie besser malen zu können, vergrösserte sie die Postkartengrossen Formate und projizierte sie auf die Leinwand. Ab 2005 entstanden auf diese Weise die Serien Erinnern (2005), Fernsicht (2007), Blütezeit (2008), Nightshots (2009) und Abheben (2010). In derselben Technik jedoch mit anderen, eher tagebuchartig die Umgebung dokumentierenden Bildvorlagen, entstanden die Serien Tage (2011), Moments (2012) sowie (Selbst-)Porträts von Schlafenden in Another World (2010). Die Bildvorlagen für alle diese Werkgruppen wurzeln im Alltag der Künstlerin. Es wird im Folgenden zu untersuchen sein, welchen künstlerischen Zweck Annatina Graf in der jeweiligen Serie verfolgt und inwiefern sich die Strategien und Intentionen im Laufe der Jahre wandeln. Dabei zeigt sich, dass Annatina Graf zwar ein verbreitetes Thema aufgreift, jedoch eine dezidiert eigenständige Position einnimmt und es schafft, im Fokus auf das Private, allgemeingültige Aussagen über unsere Kultur, unsere Gesellschaft und unser Verhältnis zu Bildern zu artikulieren.

Die Serie Erinnern umfasst mehrere Dutzend zartblau-silbern schimmernde Acrylgemälde im Querformat, in denen das Motiv mittels dünner silberner Farbschichten auf einen hellblauen Grund aufgetragen wurde. Die blassen Farben wie auch die anekdotischen Motive – spontane Aufnahmen der Kleinkinder unter dem Weihnachtsbaum, mit ihrem Lieblingsplüschtier, beim Herumalbern oder beim Schlafen – betonen den besonderen Zauber des Augenblicks. Es sind Momentaufnahmen einer unbeschwerten Kindheit, welche sich in allen Fotoalben innerhalb desselben Kulturkreises ähnlich sehen und indirekt auch an die eigenen Kindheitserinnerungen appellieren. Da es kulturell bestimmt ist, welche Rituale auf welche Weise in einer Gesellschaft gepflegt werden, und da Fotoalben angelegt werden, um ein privates Gedächtnis zu unterstützen, welches Erinnerungen an bestimmte Lebensstationen wie Einschulung, Heirat, Reisen und Familienfeste visuell fixiert, sind in den privaten Fotoalben immer dieselben Anlässe auf vergleichbare Weise dokumentiert.
Durch die monochrome Tonigkeit und den lasurhaften Farbauftrag thematisiert Erinnern zudem den Kernpunkt dessen, was Erinnerung charakterisiert: nämlich Flüchtigkeit, Unschärfe und Unbeständigkeit. Erinnerungen sind ständig vom Vergessen bedroht. Ausserdem können sie sich ändern, wenn angeregt durch Erzählungen und Fotografien, Ereignisse „falsch“ erinnert werden und plötzlich kein Unterschied mehr zwischen den ursprünglichen sowie den durch den Anlass suggerierten Erinnerungen besteht. In Erinnerungen steckt somit immer ein gewisser Anteil Fiktion. Daher ist es nur logisch, dass sich Erinnerungsbilder im Bereich zwischen dokumentarischer und inszenierter Fotografie situieren. Wir dokumentieren zwar das tatsächliche Ereignis, jedoch bitten wir die Familienmitglieder, sich in einer bestimmten Anordnung zu gruppieren, sich also in einer bestimmten Art zu inszenieren. Oder wir proben vor dem Spiegel für etwaige Aufnahmen, bis wir mit der eingenommenen Pose zufrieden sind. Private Erinnerungsbilder besetzen deshalb wie jede (auto-)biografische Kunst eine schillernde Position zwischen (Selbst-)Dokumentation und (Selbst-)Inszenierung.
In Annatina Grafs Kompositionen steht zunächst nicht die (Selbst-)Inszenierung der Kinder im Vordergrund sondern die Lebendigkeit des Augenblicks, der durch die besondere malerische Wiedergabe auch ein flüchtiges Ereignis bleibt. Denn die Farbe spiegelt das Licht und erscheint je nach Perspektive als blinder Spiegel. Es entsteht ein reizvolles Spiel zwischen Ent- und Verhüllen. So wie die Künstlerin scheinbar ihre Kinder dem öffentlichen Blick preisgibt, so verhüllt und bewahrt sie den vertraulichen Moment auch wieder, indem sie mittels Aluminiumfarbe die Sichtbarkeit trübt und auch im Werktitel keine anekdotischen Informationen verrät. Ausserdem erscheinen die Motive wegen der Vergrösserung des Fotos auf 40 x 50 cm Bildformat unscharf. Der mediale Umweg sowie die eingeschränkte Sichtbarkeit sind der Künstlerin Grundlage für eine weitergehende Reflexion der Funktionsweise der Erinnerung. Wie stabil und eindeutig sind Erinnerungen? Was bleibt in Erinnerung? Helfen Bilder wirklich die Erinnerungen festzuhalten oder schreiben sie jene nicht vielmehr fest, so wie derjenige hinter der Kamera sie erlebt hat? Dieses Risiko wird bei Annatina Grafs Gemälden durch den Fokus auf Details gemindert. Denn sie nimmt – zumal in der nachträglichen Überarbeitung in Malerei – nicht Szenen in den Blick, sondern zoomt auf Details wie Gesicht, Handreichungen und Halbkörper-Aufnahmen. Damit rückt die Beziehung zum Kind in den Fokus, dessen Blick auf die fotografierende Mutter. Der keck lächelnde Junge mit verrutschter Sonnenbrille und das zufrieden strahlende Mädchen mit dem Plüschtier blicken die Betrachter an. Sie beziehen sie in ein privates Erlebnis ein und schaffen damit Nähe. Jedoch werden auch weniger schöne Momente wie Krankheit und Verletzung angedeutet. Hier wird der emotionale Bezug durch die Verletzlichkeit und Hilflosigkeit des Kindes hergestellt, etwa durch die fiebrigen, umschatteten Augen des Mädchens oder einen hochgezogenen Rock, der den Blick auf ein Pflaster (beim Pflaster handelt es sich um eine Marzipandeko des Erst-Augustkuchens, den sich meine Tochter auf ihren Bauch geklebt hatte. Wie bereits in der Mail erwähnt, braucht es in deinem Text meiner Ansicht nach diese Präzisierung nicht) auf dem Bauch freigibt. Gerade in solchen Momenten ist die Gefahr, Privates als ein Spektakel auszuschlachten besonders gross, doch produziert die besondere Technik einen Schleier, der dafür sorgt, dass nur die essentiellen Silhouetten einer Situation aufscheinen, welche in ähnlicher Art schon jeder und jede erlebt hat. Damit überbrückt die Künstlerin die Spanne zwischen dem Anekdotisch-Privaten und dem Universal-Menschlichen und ermöglicht, ohne dem voyeuristischen Blick alles preiszugeben die Basis für Einfühlung.
Die monochrome Farbwahl imitiert also nicht nur das Verblassen der Erinnerung, sondern gewährleistet auch den Schutz vor Preisgabe intimer Details. Dadurch werden die vergrössert abgemalten Familienfotografien weniger zu Denkmälern, in denen die Künstlerin wie weiland vor ihr Generationen von filmenden und fotografierenden Familienvätern, die Struktur seiner Familie festschreibt und sanktioniert. Sondern es sind Mahnbilder vor der Vergänglichkeit aller Erlebnisse. Der silberne Schmelz signalisiert Entrückung und Nostalgie und er garantiert, dass die Vergangenheit etwas Kostbares, doch letztlich Unfassbares bleibt.

Mediale Prägungen
Was in Grafs Beschäftigung mit den früheren Familienbildern ebenfalls deutlich wird, ist das wachsende Bewusstsein der Kinder für die Situation des Fotografiertwerdens als Moment der Selbstinszenierung. Im Laufe der Werkentwicklung verschiebt sich der Akzent vom ungezwungenen Verhalten der Kleinkinder vor der Kamera zu den immer stärker posierenden und sich in Szene setzenden Teenagern. In Blütezeit (2005) stammen die Vorlagen vom Geburtstagsfest der 10-jährigen Tochter, an dem sie mit ihren Freundinnen eine Modeschau aufführte. In Blütezeit (Anja und Laura) (2009) sind die Vorlagen Passbilder aus einem Fotoautomaten, in denen die Tochter mit ihrer Freundin mit Requisiten wie Lollipops, Halsketten und Sonnenbrillen posieren und Spass haben. Über die vier Entstehungsjahre hinweg wandelt sich das unschuldig kindliche Experimentieren mit den Kleidern der Mutter zum Durchprobieren von verführerischen Gesten und Körperhaltungen. Einen ähnlichen Wandel beobachtet Annatina Graf in der Serie Nightshots, in der die Bildvorlagen aus dem Fotoautomaten in einem Jugendtreff stammen, welcher der Sohn mit seinen Kollegen frequentierte. In diesen Automatenbildern geht es um die möglichst coole, manchmal auch leicht ironische Selbstinszenierung als junge, hedonistische Erwachsene, die ihr abendliches Vergnügen amüsiert zur Schau stellen, so wie es im Gesellschaftsteil von Lifestyle-Zeitungen oder in ‚selfies’ auf den Portalen sozialer Netzwerke üblich ist.
Hier fördern die weissen und schwarzen Lasuren auf silbernen Grund, welche noch stärker als in Erinnern die Sichtbarkeit beeinträchtigen und visuelle Kippmomente produzieren, nicht die Reflexion des (auto-)biografischen Gedächtnisses, sondern thematisieren auf eindringliche Weise die instabile Identität der Heranwachsenden, welche ihre Persönlichkeit im Imitieren der vorhandenen Rollenbilder heranbilden und austesten. Der fotografischen Selbstinszenierung gehen öffentlich in Printmedien und Fernsehen zirkulierende Fotografien und Fernsehbilder von ‚celebrities’ voraus, welche die Selbstwahrnehmung der Teenager entscheidend prägen. Annatina Graf beobachtet das Dilemma heutiger Heranwachsender, deren erste Manifestation ihrer Persönlichkeit immer bereits von kommerziellen und global standardisierten Vorbildern beherrscht wird. Gerade deswegen steckt in ihrer Art der Darstellung auch ein bisschen Widerstand, den sie mit einer subtilen Anpassung ihrer Technik ausbaut. Denn während sie in Erinnern Silber noch als Malfarbe einsetzte, ändert sie in den Werken ab 2007 Silber zur Hintergrundfarbe und setzt Weiss oder Schwarz (Schwarz habe ich erst 14 in den Night Trip - Bildern verwendet) ein, um die Motive herauszuschälen: „Der Wechsel von der Malfarbe zur Hintergrundfarbe erfolgte aus dem Versuch einer noch stärkeren Akzentuierung des Verblassens, des sich immer in einem anderen Licht Darstellens, des nicht Fassbaren. [...] Mir gefiel dieses Eigenleben der Farbe, dieses sich nicht unterwerfen wollen, dieses Ungebändigte.“ Während das erratische Farbverhalten also einerseits als Metapher für die Persönlichkeitsentwicklung der Pubertierenden verstanden werden kann, manifestiert sich darin andererseits auch ein Funken Hoffnung, den Annatina Graf in ihren Kinder und deren vitalen Appetit auf lustvolle Selbstdarstellung entdeckt. Es suggeriert das Flüchtige und damit Korrigierbare dieser von aussen auferlegten Posen.
In gewissen Werkgruppen wie Blütezeit (2008) „verteidigt“ die Künstlerin mit der farbigen Palette und einem besonderen „subtraktiven“ Farbauftrag ausserdem die Unschuld dieser Selbstinszenierung. Statt reduzierter Schwarz-Silber- oder Weiss-Silber-Palette verwendet die Künstlerin bei der Übertragung des Fotos auf die Leinwand das Spektrum der Grundfarben Blau-Rot-Gelb und deren Mischfarben. Annatina Graf scheidet zunächst die Ausgangsfotografie mithilfe eines elektronischen Filterprogramms in die drei Grundfarben und malt sie dann nach Farben aufgetrennt auf den Bildträger. Ihre Malerei übernimmt damit die subtraktive Logik des elektronischen Bildaufbaus. Dies erlaubt ihr – besonders in den vor weissem Hintergrund freigestellten Einzelfiguren in Blütezeit – Lücken offen zu lassen, in denen die helle Grundierung durchscheint. Dadurch entsteht ein besonders luftiger Auftrag, der so passend für die frühe Pubertätszeit erscheint, der noch durch kindliche Sorglosigkeit und spielerisches Ausprobieren geprägt ist. Gleichsam wie zarte Blütenblätter legen sich hier auch die transparenten Farbschichten übereinander.
Dem ungeachtet kommt die Künstlerin immer wieder auf die Macht der Medien und deren Einfluss zurück, der früh in der Kindheit einsetzt, wie besonders die Serie Fernsicht (2007) demonstriert. Hier sind es abermals Aufnahmen der Kinder vor der Pubertät, welche Annatina Graf nun aus der Position des Fernsehers aufgenommen hat. Diese zeigen Jungen und Mädchen auf dem Sofa in absoluter Konzentration auf das Geschehen in der „Flimmerkiste“ gerichtet, das Kinn selbstvergessen aufgestützt. In dieser Werkgruppe bezieht sich die Künstlerin auf die Funktion des Fernsehens als Gedächtnispfeiler kollektiven Erinnerns. Aufgrund seiner Verbreitung und zeitintensiven Nutzung schreibt sich Fernsehen geradezu in die Biographie seiner Betrachter ein. Gemäss dem Gedächtnisforscher Lorenz Engell fungiere Fernsehen „wegen seiner thematischen Breite und Omnipräsenz sowie seiner Eingelassenheit in die alltägliche Sinnzirkulation als kulturelles Gesamtgedächtnis ganzer Gesellschaften und Kulturkreise. In der vom Fernsehen induzierten kollektiven Erinnerung wird kulturelle Vergangenheit und mit ihr Identität in spezifischer Weise erfahrbar.“
Obwohl in Fernsicht die Kinder nicht miteinander kommunizieren, sondern der Monitor lediglich gemeinsamer Bezugspunkt ist, wird das Fernsehen durch das parallele Schauen zur gemeinsamen sinnstiftenden Erfahrung. Wie alltäglich dieser Vorgang ist, betont die Künstlerin, indem sie die gleichen Bildvorlagen dreimal umsetzt: einmal malt Graf sie in Weiss auf Silber, einmal im subtraktiven Farbverfahren in Aquarellfarbe und einmal druckt sie die Vorlage auf eine gemusterte Tapete. Bei allen dreien wird ein anderer Aspekt in den Vordergrund gerückt: ist es beim ersten die Verbindung zwischen Erinnerungsbild und Alltäglichkeit, ist es beim zweiten die Ästhetik des flimmernden Bildkastens, den Graf mit schnell aufgetragenen Aquarellfarben imitiert. Die Verwendung der Tapete schliesslich steht für das Häusliche schlechthin, als „Ausdruck der heilen Welt, der häuslichen Idylle.“ Fernsehen wird in vieler Hinsicht zur Bezugsgrösse. Es dominiert nicht nur die Persönlichkeitsentwicklung der Heranwachsenden, sondern bündelt individuelle Erlebnisse zur kollektiven Erinnerung. Doch dämonisieren Annatina Grafs Beobachtungen nicht einseitig die mediale Beeinflussung sondern dokumentieren lediglich die Wechselwirkung zwischen privaten und öffentlichen Bildern. Jugendliche nutzen unbefangen die vorhandenen Medien als Instrument zur Stilisierung des eigenen Images wie die Werkgruppe Abheben (2010) vorführt, welche junge Mädchen mit fliegenden langen Haaren (die Mädchen machten Luftsprünge ohne Seil; es gibt jedoch einzelne Werke dieser Serie, die Kinder beim Seilspringen festhalten. Unterschied: die SeilspringerInnen habe ich fotografiert, die jungen Damen haben sich selbst aufgenommen und mir dann die Fotos zur Verfügung gestellt) zeigt. Graf fand ihr Motiv zufällig, als sie Teenager beim Posieren fürs Handy-Foto entdeckte, welche sich „ein bisschen verrückt, ein bisschen cool, ein bisschen anders als sonst – fern des Alltags voller Pubertätsprobleme, glücklich im Moment“ darstellten. Diese Selbstbilder sind so voller Energie und Lebensfreude, dass es nicht erstaunt, wenn die Bilder der ‚selfie’-Generation mittlerweile auch in Werbung, Fernsehen und Printmedien auftauchen.

Kunstprojekt Familie
In den bisher besprochenen Werken dokumentiert und bearbeitet Annatina Graf die Momente eines typisch westlichen Lebenslaufs von der Kindheit bis zur Adoleszenz. Neben ihrem künstlerischen Interesse an den Mechanismen der Erinnerung sind ihre Werke auch Lehrstücke der interdisziplinären gegenseitigen Beeinflussung von Fotografie und Malerei und ihrer jeweils spezifischen Form der Weltaneignung. Schon in den Siebziger Jahren argumentierte Susan Sontag, dass Fotografieren eine aggressivere Aneignung der Welt sei als Malerei. Während Malerei und Zeichnung die Welt interpretiere, verschaffe die Fotografie Wissen über ihren Gegenstand und damit Macht über das fotografierte Objekt. Malerei war nie so ‚imperialistisch’ in ihrem Gestus und Ausmass, dass sie die Welt möglichst in ihrer Ganzheit abbilden wollte. Dies gilt auch für den Versuch, in Erinnerungsbildern die Vergangenheit oder in touristischen Souvenirbildern neue unbekannte Orte festzuhalten. Fotografieren fördert eine chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt. Diese beinhaltet ein distanziertes Verhältnis zum Objekt und bedeutet, am Ereignis selbst nicht teilzunehmen. Beim Fotografieren der eigenen Kinder bleibt auch die Künstlerin auf Distanz, denn nicht alle fotografischen Vorlagen hat sie selbst gemacht. Die Überwindung der Distanz geschieht durch die aufwendige Übertragung in Malerei, den bedeutsamen Bildausschnitt, den Graf auswählt, der zärtliche Blick der Mutter oder die tatsächliche Erinnerung, welche abgerufen wird und auch das Publikum durch den allgemeinen Appell mit einbezieht.
Durch die Malerei hingegen fliesst viel mehr Emotionales ein als durch die Fotografie. Dieselbe Erfahrung machte auch die niederländische Malerin Marlene Dumas (*1953), welche seit den Achtziger Jahren die eigene Tochter malt, denn: „The aim is to ‚reveal’ not to ‚display’. It is the discourse of the Lover. I am intimately involved with my subject matter... I am not disengaged from the subject of my gaze. With photographic activities it is possible that they who take the pictures leave no traces of their presence, and are absent from the pictures. Paintings exist as the traces of their makers and by the grace of these traces. You can’t TAKE a painting – you MAKE a painting.”
Die gefühlsmässige Anteilnahme zu den eigenen Kindern mittels Malerei kann so weit gehen, dass die Frage nach mütterlichem Narzissmus ins Spiel kommt. Etwa wenn Dumas sich selbst im Porträt ihrer ca. 5-jährigen halbnackten Tochter Helena als The Painter (1994) ein Denkmal setzt. Die exaltierte Wiedergabe des Kinderkörpers in Erwachsenengrösse sowie der bewusst vieldeutig gesetzte Werktitel „the painter“ legt eine solche Deutung nahe. Doch zeigt die Darstellungsweise von Dumas’ Tochter auch das dämmernde Bewusstsein für die Grenzen dieses Ansinnens, indem der konfrontative Blick des Mädchens Widerstand und eine eigene, starke Persönlichkeit verrät.
Umgekehrt gibt es bei Gerhard Richter (*1932) den Vorwurf patriarchaler Inszenierung, wenn er seine dritte Frau beim Stillen des gemeinsamen Sohnes zeigt. Obwohl Richter in seiner Malerei alle Kniffe der Technik wie Verwischung, Unschärfe, abstrakte Einschübe, Glanzlichter und Schmelz einsetzt, um das Motiv undeutlich zu machen, knüpfen die acht Gemälde des Zyklus S. mit Kind (1995) unverhohlen an der Madonnen-Ikonographie an und zwar schon bereits im Moment des Fotografierens der Bildvorlagen. Der Kunstkritiker Stefan Germer wirft dem Maler vor, dem Betrachter mit der Preisgabe von allzu Privatem „eben jene psychologisierend-biografische Sichtweise“ aufzunötigen, welche man durch Richters distanzierte Produktion bisher eigentlich überwunden geglaubt habe. Mit dem süsslichen Motiv und den Bildstrategien wiederhole Richter die üblichen patriarchalen Konventionen. Als Vater bestimme er die Art und Weise, wie seine Familie inszeniert und konstruiert werde: „Die scheinbare Preisgabe des Privaten folgt keineswegs der Maxime, dass dieses politisch und deshalb öffentlich sei, sondern schreibt vor Zeugen die bestehenden Rollen- und Beziehungsmuster fest“ , ja das Ästhetische werde als „Legitimationen des Privaten“ benutzt.
Annatina Graf kann sich vor dem Vorwurf der Ausbeutung privaten Glücks nur schon deshalb schützen, indem sie keine Parallelen zur christlichen Ikonographie bemüht oder das Alltagsgeschehen glorifiziert. Doch muss die Konstellation: Vater schafft Kunst nach Familienbildern nicht automatisch Argwohn wecken, wie das Beispiel von Marcel Gählers (*1969) Bleistiftzeichnungen aus dem Jahr 2011 zeigen. Der in Zürich geborene Künstler zeichnet seine Kinder in den Ferien am Meer oder an Festen. Doch wählt auch er einen medialen Umweg, indem er die Ferienbilder bei familiären Zusammenkünften auf die Wand projiziert, sie nochmals abfotografiert und dann im ursprünglichen Fotoformat (6,7 x 8,7 cm) abzeichnet. Mit der klassischen Bleistiftzeichnung unterstreicht er das Überzeitliche der kindlichen Gesichter und lustvollen Erlebnisse am Strand oder im Schnee – man weiss nicht, ob es sich um Gählers Kinder, ihn selbst oder gar seine Eltern handelt – während die leicht verschobene Rahmung der Bilder eine Distanzierung andeutet. Hier schein ein selbstreflexives Moment auf. Der Künstler verweist einerseits auf seine mehrstufige Arbeitsweise und andererseits schwächt er damit das Anekdotische. Es geht auch ihm stattdessen um den universalen Umgang mit Erinnerung sowie die Verbindung zwischen den Generationen – das Wissen etwas von seinen Eltern über ihn bis zu seinen Kindern weiter gegeben wird. Seine auf den ersten Blick individuellen Erinnerungsbilder reihen sich auf diese Weise in die kulturelle Konvention ein und damit in die in jedem Zeitalter wieder neu zu leistende Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit.

Entfremdeter Alltag
Neben den Fotografien der Kinder hat Annatina Graf seit 2011 auch Fotografien ihrer Umgebung für eine „tagebuchartige Malerei“ eingesetzt. In der Serie Tage arbeitet sie erneut auf dem Kleinformat 40 x 50 cm in subtraktivem Farbauftrag. Während die Motive auf den ersten Blick vertraut scheinen: Schnappschüsse von Menschen und Tieren, Innenräume und Hausfassaden, Spielzeuge und Landschaftsausschnitte erzeugt die Blickrichtung und der Bildausschnitt eine merkwürdige Atmosphäre. Die Porträts geben das Gesicht angeschnitten oder in extremer Aufsicht zu erkennen. Manchmal ist eine liegende Person frontal von oben gemalt und erscheint auf den Kopf gestellt. Von einem tanzenden Paar sind nur die Füsse bis zu den Knöcheln zu sehen. Zahlreiche Spiegelungen verzerren die Perspektive und erschweren die spontane Orientierung im Bildgeschehen: ein hellerleuchtetes Büro spiegelt sich im Fenster, ein Paar spiegelt sich in einer Scheibe mit eingravierten Worten, eine Taube sitzt auf einem Spiegel (Dachfenster meines Ateliers), der sie von unten als unförmige Masse wiedergibt. Gewisse Motive sind von vornherein unheimlich, wie die frontal wiedergegebene Röhre eines Magnetresonanz-Tomographens, mit dem man den Körper auf mögliche Anzeichen schwerer Erkrankungen absucht. Andere erscheinen durch die Nahsicht furchterregend, wie ein irr grinsendes Schimpansen-Stofftier oder die durch ein Tuch abgedeckt Augenpartie einer Frau. Viele Gesten sind aus dem Zusammenhang gerissen oder Gesichter nur partiell zu sehen und daher nicht zu deuten. Mit der betont fröhlich-grellen Farbigkeit des subtraktiven Malverfahrens erscheint die Diskrepanz zwischen der durch die Farbe und der durch die ungewohnten Ansichten geschaffenen Atmosphäre zugespitzt. Die Alltagslogik scheint ausgehebelt, die Gegenstände und Orte erhalten ein Eigenleben, durch das ein Misston klingt und eine böse Ahnung schwant. Wie die Kunsthistorikern Roswitha Schild schreibt, entstanden die tagebuchartigen Notate in einer Phase des privaten Umbruchs. Die fast konzeptuelle Beschränkung auf das Format und die malerische Umsetzung böten „die Möglichkeit, um innerhalb eines definierten Rasters täglich sich ändernde Befindlichkeiten auszudrücken ohne diese selbst zum Thema werden zu lassen“. Es gäbe keinen erzählerischen oder inhaltlichen Zusammenhang unter den Motiven, ausser dass sie von Annatina Graf fotografiert worden sind. Die mediale Übersetzung und der technische Umweg garantieren diesmal, dass das „Ausgangsmotiv zuweilen unkenntlich, verliert seine individuelle Dinglichkeit. Gleichzeitig gewinnt das noch Erkennbare etwas Archetypisches“.
Bei den Familienbildern wie bei den Alltagsschnappschüssen hat die Malerei die Aufgabe, das Anekdotische und Triviale der Fotografie zum Archetypischen des Inbildes zu führen. Die konzeptuelle Rahmung und die methodische Disziplin verbinden das subjektive Erleben mit dem Bestreben etwas Allgemeingültiges auszusagen sowie den Einfluss digitaler Medien spürbar zu machen. Doch ist die beklemmende Fremdheit der Ansichten und Motive auch in späteren Werkgruppen Programm. Denn in Moments (2013) verarbeitet Annatina Graf das Bildarchiv, das sie für Tage angelegt hat, weiter, indem sie mehrere Motive und Bildausschnitte neu kombiniert und die Atmosphäre damit weiter verdichtet. Nicht mehr der einzelne Tag steht im Mittelpunkt, für den das Bild stellvertretend die Stimmung einfängt, sondern der einzelne Moment, der sich in der Verdichtung bestehender Motive einstellt. Die Surrealität des einzelnen Bildes wird dadurch gesteigert und zusätzlich durch das vergrösserte Format betont. Die Technik verstärkt die Wirkung ebenfalls, indem die Farbschichten nun auf silbernem Grund übereinandergelegt und wieder nur von bestimmten Standpunkten aus sichtbar werden. Die Fremdheit einzelner Tage wird in Moments auf ein alptraumhaftes Lebensgefühl ausgedehnt.
Der Rückgriff auf surrealistische Gestaltungsmittel wie massstabsunabhängige Vergrösserung, perspektivische Verzerrung und zusammenhangslose Kombinationen von Bildelementen hat einen inhaltlichen Grund, wie in den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als die Wirklichkeit und der Alltag erstmals auf ihre Beziehungen zum Un- und Unterbewussten untersucht und Stilmittel erprobt wurden, welche das Traumhafte und Alptraumhafte als Einbruch in die Realität suggerierten. Damals wurde gleichzeitig die Entfremdung als Lebensgefühl der Moderne entdeckt und künstlerisch thematisiert. Im Rückgriff auf das Instinktive und die „Aufhebung des Ichs im Es“ sollten die Zonen der Begierde in allen Richtungen erkundet werden, „bis sie das Geheimnis preisgeben, wie sich ‚das Leben ändern’ lasse.“

Annatina Grafs Werke kreisen um den Alltag und stellen ihn als Terrain der Fremdheit und Entfremdung dar, wie er seit der Moderne in Kunst, Soziologie und Philosophie in Anlehnung an Karl Marx analysiert worden ist. Für Henri Lefebvre, Michel Certeau oder Jean Baudrillard ist der Alltag nicht das Revier des Banalen und Trivialen, sondern der Bereich, in dem die wichtigen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen des Spätkapitalismus spürbar und sichtbar werden sowie auch der Schlüssel zur Änderung begraben liegt. Hier liegt die politische Dimension des Bildthemas, das auf den ersten Blick so harmlos, subjektiv, emotional und egozentrisch wirkt. Der eigentliche Grund, weshalb das Alltägliche in zyklischen Abständen für die Kunst interessant wird, sind die jeweils drastisch neu erfahrenen Wirkungen, welche der Kapitalismus darin entfaltet und dem freien Willen und Bewusstsein als Schranken auferlegt. Im eingangs zitierten Gedanken der amerikanischen Künstlerin Martha Rosler gilt es die Ideologie zu entlarven, welche dazu geführt hat, dass das Privatleben die bei der Arbeit erfahrene Entfremdung wettmachen solle. Eine Entfremdung, welche die Abschaffung handwerklicher Fähigkeiten und bedeutungsvoller, produktiver Tätigkeiten mit sich brachte sowie den Umstand, dass Selbstbestimmung und Kontrolle nur mehr bei Kauf- und Konsumentscheiden toleriert werden. Diese Entfremdung von uns selbst sowie von den anderen werde nur noch beim Anschauen von Selbstbildern überwunden: „We best comprehend ourselves as social entities in looking at pictures of ourselves, assuming the voyeur’s role with respect to our own images; we best know ourselves from within in looking through the viewfinder at other people and things.“ Doch während der Bereich der subjektiven Äusserung erst recht Ideologie-anfällig sei, weil dort die Ideologie nicht mehr entlarvt werden könne, da schliesslich alles Persönliche und Subjektive per se „wahr“ sei, müsse die Verfremdung wieder eingearbeitet werden, um die ideologische Kontaminierung sichtbar zu machen.
Ohne bewusst Martha Roslers Strategien zu folgen, setzt Annatina Graf diese Ratschläge in ihrem Werk um, indem sie die Interdependenz von massenkulturellen Bildern mit Privatbildern thematisiert und die Entfremdung als Lebensgefühl im Alltag mit einer besonderen Maltechnik sichtbar macht. Damit rettet sie ihre eigene Kunst vor dem Verdacht, nur privat und sentimental zu sein. Der Blick auf ihre Kinder und auf deren Unschuld geschieht im Bewusstsein für den Einfluss, den das Fernsehen und die Massenkultur der Konsumgesellschaft auf sie ausübt. Der Blick auf ihre eigene Umgebung geschieht in einer Atmosphäre des (Alp-)Traumes, in dem Gewissheiten – der Anspruch auf Wahrheit – brüchig geworden sind. Hier liegt das emanzipatorische Potential von Annatina Grafs Kunst. In der widerspenstigen Wiedergabe als Silbermalerei sind ihre Werke nicht einfach konsumierbar, sondern entziehen sich immer wieder der Schaulust. Wenn die Künstlerin Erinnerungen darstellt, dann nicht als konsumierbare Erzählung, sondern als Ahnung einer Ganzheit, die sich nie wieder einstellen wird. Die Objekte und Orte in Annatina Grafs Alltag schliesslich, haben ein Eigenleben. Sie zeigen sich von ungewohnter Perspektive und geben sich fremdartig. Alltag ist nicht mehr das Terrain der Konsumlogik, sondern das neue Territorium einer visionären Kraft. Denn Annatina Grafs „fremdartiger Alltag“ ist nicht Ausdruck der Entfremdung allein, sondern des nicht im Bestehenden Behaust-sein-Wollens. Ein Zustand, der beachtliche Energie für Änderungen in sich birgt.

Kathleen Bühler