Annatina Graf

2013 Annatina Graf

Titel
2013 Annatina Graf
Datum
2013
Originaltext

Moments heisst die 2012 entstandene Bildserie von Annatina Graf, die in komprimierter Form all das enthält, wovon die Künstlerin in ihrem ganzen Werk spricht: Erinnern, Vergessen, Gedächtnis, Speicher, Identität. Diese Themen bewegen schon seit Jahrzehnten Schriftsteller, Hirnforscher und Kunsttheoretiker und sie sind auch Teil der «aktuell geführten Diskussion über die Rolle der Autobiografie und der Erinnerung in der Gegenwartskunst». Wie aber formuliert eine bildende Künstlerin ihre Auffassung von Erinnern? Ein Überblick über das Werk von Annatina Graf zeigt eine faszinierende Stringenz, mit der sich die Künstlerin diesen (Lebens-)Aspekten in ihrer Kunst multimedial hingibt.

Bereits in der Serie entkörpert (1999) oder Zeig mir Dein Meer (2000) geht es um den Erinnerungsspeicher unseres Körpers. Knie, Hals oder Becken werden vergrössert und malerisch verdichtet, erscheinen wie De-Formationen oder konturlose Fragmente, kaum mehr identifizierbar. In unverblümt (2003) untersucht Annatina Graf dann die Oberfläche des Körpers näher. Denn Haut sieht sie als «Schnittstelle» zwischen innen und aussen, als Schutzhülle wie auch als nackte Bedrohung. Die Ebenen vermischen sich und die Osmose lässt neue (Linien-)Strukturen entstehen. Durch die Überlagerung verschiedener Oberflächen (der Bewegung des Wassers und des Körpers einer Schwimmerin) sowie wechselnder Zeiteinheiten wird in Wasserzeichen (2004) der paradiesische Grenzbereich zwischen Imagination und Rationalität, auch im Klang der Töne, ausgelotet. Noch einen Schritt weiter geht die Künstlerin in der ein Jahr darauf entstandenen Videoinstallation Porträts für das Kunstmuseum Solothurn. Sie lässt Frauen und Männer vor ihren Lieblingsbildern im Museum erzählen. So entsteht ein Dialog zwischen den filmischen Videos und den gemalten Bildnissen aus der Museumssammlung. «Dieses Nebeneinander von Realitätsebenen, von Kunst und erlebter Wirklichkeit, von Gestern und Heute, gehört zu den besonderen Reizen von Grafs Porträts.»

Porträts sind auch die Motive in den Bildserien Idylle (2006) und Erinnern (2007). Als Vorlage dienten Fotografien ihrer Kinder aus früheren Jahren. «Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.» In den Arbeiten Annatina Grafs begegnet man nicht einfach der Wiederholung von Vergangenheit, sondern einem produktiven Prozess persönlicher Verinnerlichung. Die Fragilität ihrer Werke macht die Künstlerin durch silbrig schimmernde Aluminiumfarben oder weisse Acrylfarbe auf Silbergrund konkret sichtbar. Je nach Standpunkt und Lichteinfall verlieren die Motive ihre Eindeutigkeit, werden zu gleichsam trügerischen Erinnerungen zwischen «war» und «ist». Immer mehr interessieren dabei die Übergänge: Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsensein, Schlafende am Rande zum Traum. Die Bildtitel lauten entsprechend Nightshots (2009), abheben (2010), Another world (2010). Als wunderbar poetisches Sinnbild setzt die Künstlerin im Video Traversata (2011) eine Schaukel ein, die mit ihrer gleichmässigen Schwingung den Rhythmus angibt, zwischen den Welten (von Innen- und Aussenraum) hin- und herpendelt und dabei Freiraum für Fantasien lässt.

Solche Augenblicke werden auch in Moments eingefangen. Ausgangspunkt war ein Kunst-am-Bau-Projekt, das die Künstlerin 2012 für das Bürgerheim der Stadt Chur realisierte. Erinnerung und Identität bekommen hier bewusst Brisanz, stehen die Bewohner doch im letzten Lebensabschnitt. Aus ihrem persönlichen Bildarchiv hat Annatina Graf Fotos ausgewählt, am Computer bearbeitet und in kleinformatige Gemälde übersetzt. Aus dem Untergrund der silbern grundierten Leinwand drängen Gelb, Cyan, Magenta und Schwarz ans Licht. In lasierender Unschärfe bewirken sie schwerelose, scheinbar unzusammenhängende Formverdichtung und -auflösung. Momente, in denen sich Erinnerungsfetzen auf farbige Traumgedanken schichten und in der nächsten Sekunde bereits der Welt entrückt scheinen - irritierende Harmoniezustände zwischen Erinnern und Vergessen.