2022 Annatina Graf, Another World, Viewer, Kunstverein Solothurn
Annatina Graf. Another World. 2022. Videoinstallation im Viewer des Kunstvereins Solothurn, Solothurn.
Vernissagerede
Annatina Graf, Another World, Viewer, Kunstverein Solothurn
Der Viewer wurde als grosser Guckkasten konzipiert, er stellt etwas zur Schau, das von zwei Seiten betrachtet werden kann; er ist aber ebenso ein Gehäuse, eine Hülle, die das Innere schützend umgibt. Selten hat eine Intervention im Viewer diese beiden Aspekte so stark betont wie die Videoarbeit Another World von Annatina Graf, die sie ortsspezifisch für die Plattform des Kunstvereins entwickelt hat.
Ausgestellt, den Blicken der Passantinnen und Passanten ausgesetzt, dank den schützenden Wänden und Glasscheiben aber doch auch räumlich geborgen: In diesem Spannungsfeld befindet sich die projizierte Schlafende (alle, die Annatina Graf kennen, erkennen in der projizierten Schlafenden sie selbst), die in den Abend- und Nachtstunden bis 8 Uhr morgens im Viewer zu sehen ist. Während des Tages sind nur der Karton und die Wolldecke zu sehen. Die beiden Objekte lassen Raum für unsere Imagination: Man stellt sich vor, wie die Schlafende ihr nächtliches Lager verlassen hat und durch die Strassen zieht, bevor sie am Abend zurückkehren wird. Karton und Decke verunsichern aber auch – handelt es sich um eine provisorische Situation, oder hat sich möglicherweise sogar tatsächlich jemand hier einquartiert? Eine Unsicherheit, die erst durch die Videoprojektion abends aufgelöst wird.
Das Leuchten der Projektion zieht von weitem an – und die Videoprojektion macht die Schlafende, die wir im Kontext des Viewers und seinem Standort auf dem Amthausplatz, vor allem aber wegen der notdürftigen Kartonunterlage als Obdachlose lesen, erst sichtbar. Was für eine Diskrepanz zu Erfahrungen von wohnungslosen Menschen, die davon berichten, von der Gesellschaft ignoriert zu werden und unsichtbar zu bleiben. Im Viewer schauen wir hin, statt weiter zu gehen. Das gilt grundsätzlich für alle Bespielungen im Viewer und ist Ziel der Ausstellungsplattform, bei der Projektion von Annatina Graf kommt dem Hinschauen aber eine existenziell-gesellschaftliche Dimension hinzu.
Der Schlaf – ein bekanntes kunstgeschichtliches Motiv – beschäftigt die Künstlerin Annatina Graf seit über 10 Jahren. In der berührenden Bildserie Another World (2010-11), die Annatina Graf 2015 anlässlich ihrer Einzelausstellung im Kunstmuseum Solothurn präsentierte, stellt sie schlafende Familienmitglieder dar. Die Silhouetten der schlafenden Personen trug sie mit weissen Lasurschichten auf silbernem Grund auf. Beim Hin- und Herschreiten vor den Bildern taucht das Motiv auf und wieder ab, wird erkennbar, um im nächsten Moment wieder in der Bildfläche zu verschwinden. Das Fliessende und die Unschärfe der Malerei entsprechen dem ephemeren Charakter von Träumen.
Schlafend verlieren wir die Kontrolle über unseren Körper. Die Serie berührt, weil sie Personen in einem intimen, verletzlichen Moment zeigen. Annatina Graf hat mit ihrer Technik des reflektierenden Silbers eine subtile Form gefunden, dem Schlaf – dem kleinen Bruder des Todes – ein Gesicht zu geben. Ihre Bilder sind eine Annäherung, ohne dass sie die Verletzlichkeit zur Schau stellen.
Paris wühlte die Künstlerin und ihr poetisches Verständnis des Schlafes, wie sie es nennt, auf. Vor der Cité Internationale des Arts, wo Annatina Graf während eines Atelierstipendiums 2017 weilte, schlagen Obdachlose jeweils ihr Nachtlager auf. Täglich begegnete die Künstlerin ihnen, man wurde zu Nachbarn, ohne sich zu kennen. Täglich wurde Annatina Graf auf dem Weg in ihr Wohnatelier mit existenziellen Fragen konfrontiert. Das Flüchtige, Zarte des Schlafes wandelte sich in ihrem Schaffen zu einer neuen, festen Form: Ohne schillernden Glanz oder Spiegelung malte Annatina Graf nun die schlafenden Obdachlosen auf Kartonträger, wechselte vom privaten Raum der Familie in den öffentlichen Raum. Mes voisins inconnus nannte sie die Serie. Ebenso überraschend wie präzise ist die Wahl des Bildträgers, der Ausdruck inhaltlicher Überlegung ist. So wie der Karton zum Bildträger wird, trägt er auch im realen Leben den Körper der schlafenden Obdachlosen und bietet als Schlafunterlage eine Form von Schutz vor der Kälte des Bodens. Der Karton betont die existenzielle Bedrängnis der dargestellten, liegenden Figuren.
Ein solcher Karton liegt nun auch im Viewer und triggert unsere Wahrnehmung. Während des Tages wirkt er zusammen mit der Decke provisorisch und funktioniert gleichsam als Hinweis, als Platzhalter. Die Projektion fügt den beiden realen Gegenständen eine neue (mediale und technische) Ebene hinzu, die von grosser Präsenz zeugt und gleichzeitig unfassbar bleibt. Inmitten der einfachen Objekte wirkt die Projektion schillernd und in ihrer Körperlosigkeit fast surreal, fremd.
Der Mensch ist seit jeher in Annatina Grafs Schaffen Hauptmotiv und Thema. So auch im Viewer. Und es gelingt der Künstlerin eindrucksvoll, im Viewer alltägliche Beobachtungen und existenzielle Überlegungen in einer bildstarken Arbeit zu verbinden, wobei sie das Thema des Schlafenden und des schlafenden Obdachlosen von der Malerei ins bewegte Bild fortsetzt.
Patricia Bieder, Januar 2022