2008 «Blütezeit»
Cover «Blütezeit», Edition Hirschkuh, 2008.
- Herausgeber:in:
- Edition Hirschkuh
Blütezeit oder Die Erwartung des Fruchtlandes
Reflexionen zum künstlerischen Schaffen von Annatina Graf und Jörg Mollet von Annelise Zwez
„Blütezeit“ hat nichts mit Blumen zu tun oder wenigstens nicht direkt. Weder die Werke von Annatina Graf noch jene von Jörg Mollet hätten in „Fleurs“ (Schaffhausen, 2000) oder in „Blumenmythos“ (Riehen, 2005) Sinn gemacht. „Blütezeit“ ist zunächst der Titel der jüngsten computerbearbeiteten Videoarbeit von Annatina Graf (2008). Sie zeigt, reduziert auf schwarzweiss, bildnerisch frei gestellte Mädchengestalten, die zum Sound von „Step into this room and dance for me “ (Madrugada) mit geschmeidigen Bewegungen aus einem unsichtbaren Vorhang heraustreten und, zuweilen winkend, wieder darin verschwinden. Das filmische Ausgangsmaterial entstand während einer „Modeschau“ am Geburtstagsfest von Grafs Tochter Laura als diese, 2005, zehn Jahre alt wurde. Der Begriff „Blütezeit“, der hier Titel gebend ist, wird in China nicht nur mit der Zeit des Blühens in Verbindung gebracht, sondern, im übertragenen Sinn, auch mit der erwartungsreichen Zeit, wenn Kinder zu Erwachsenen werden. In Europa nennen wir diesen Übergang ziemlich nüchtern „Pubertät“ und meinen damit eher Pickel und Probleme als Poesie. Doch Annatina Graf sucht – wohl mehr in sich selbst als in der Projektion auf ihre Kinder – bewusst die subtilen Momente der Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte, die sich in dieser Zeit eröffnen. Der multimedialen Praxis der Künstlerin entsprechend, stehen auch die aktuellen malerischen Werke unter demselben Titel.
„Blütezeit“ übertitelt in diesem Katalog ebenso die jüngsten Bildwerke von Jörg Mollet, obwohl die Arbeiten im Einzelnen „Hängende“ respektive „Mond-Gärten“ heissen. Mollet weilte in den letzten Jahren oft in Lybien, im Zusammenhang mit einem bis heute fortdauernden Forschungsprojekt zu uralten Fels-Zeichnungen daselbst. Nicht die Zeichensprachen sind es indes, die in seine Malerei einfliessen, sondern das schon während Expeditionen nach Algerien und Mali initiierte Erlebnis der Wüste. Weltregionen, wo sich das Leben der Pflanzen oft in kürzesten Vegetationszeiten abspielt, wo sich Lebenskraft aus Warten auf Kommendes, aus Hoffnung auf Wasser nährt. Keineswegs zufällig vergleicht Mollet sein aktuelles Schaffen mit einem Bild von Paul Klee von 1932, das den Titel „Blick ins Fruchtland“ trägt und nach einer Reise Klees nach Ägypten entstand. Auch seine Bilder seien mit Sehnsucht aufgeladene Blicke in fruchtiges Land, sagt Mollet. „Blütezeit“ folgt also auch beim ihm der chinesischen Begriffsdeutung als Zeit der Erwartung von Fruchtbarkeit.
Bezieht sich „Blütezeit“ bei Annatina Graf auf individuelle menschliche Erfahrungen, die sich in ihrem Werk in Form bildlicher Erinnerungen an erlebte Gefühle manifestieren, so fokussieren die Arbeiten von Jörg Mollet primär eine persönliche Interpretation kollektiver Naturkräfte.
„Blütezeit“ umschreibt das bisher umfangreichste Zusammenspiel von Werken von Annatina Graf und Jörg Mollet, die seit zehn Jahren in Partnerschaft leben. Es ist aber nicht ihr erster Auftritt als Künstlerpaar. Schon 2000 traten sie in der Reihe „Neubekannt“ in der Galerie Rössli in Balsthal gemeinsam auf, realisierten im selben Jahr einen „Erinnerungs-Leucht-Körper“ für „Containeronline“ im Wasseramt und zeigten an der Triennale für Originalgrafik in Grenchen eine Duo-Arbeit. „In Amsterdam und überall“ (Edition Hirschkuh) dokumentiert darüber hinaus den gemeinsamen Aufenthalt im „Open Atelier“ in den Niederlanden (2004).
Doch erstmals geht es mit „Blütezeit“ nun auch um inhaltliche Momente in den formal und medial sehr verschiedenen – auch deutlich von zwei Generationen und überdies von Mann und Frau geprägten – künstlerischen Werken. Auf dieser Ebene gehen die Interaktionen gar weiter zurück als ihre Bekanntschaft, zumindest von Seiten Annatina Graf. Ende November 1993 las die junge, damals noch sehr nach Ausdruck suchende Künstlerin in der Basler Zeitung eine Besprechung von Aurel Schmidt zu Mollets „China“-Ausstellung in der Galerie Siegert in Basel. Die Beschreibung von dessen „Leib-Raum“-Bildern packte sie so, dass sie hin fuhr und die scheinbar mit dem Pinsel tanzenden, farbtrunkenen Körper-Räume fasziniert „einsog“. Es war der Auftakt zu ihrer eigenen, bildnerischen Auseinandersetzung mit dem „inneren Wesen“.
„Blütezeit“ hat weder im Werk von Annatina Graf noch in jenem von Jörg Mollet illustrativen Gehalt. Dafür umso mehr Facetten. So meint der gemeinsame Auftritt zweifellos auch das „Erwachsenwerden“ der Beziehung der beiden und ist, nach der Genesung Mollets von schwerer Krankheit, ein bewusstes Bekenntnis zum „Blühen“. Es kommt hinzu, dass Annatina Graf, im Gegensatz zu Jörg Mollet, dessen künstlerisches Werk in die 1970er-Jahre zurück reicht und schon seit den 1980er-Jahren breit rezipiert wird, seit 1998 eine intensive künstlerische Entwicklung durchlief, in den letzten Jahren mehr und mehr beachtet wurde und mit dem Abschluss der Master-Ausbildung in Digital Media an der Hochschule für Gestaltung und Kunst, Luzern (2007) nun auch das mehr psychologisch als real belastende Attribut „Autodidaktin“ offiziell hinter sich gelassen hat. „Blütezeit“ markiert somit auf äusserer, innerer und thematischer Ebene einen Höhepunkt.
Annatina Grafs aktuelles Schaffen ist eine spannende Mischung zwischen ausge-sprochen jung und zeitgemäss, macht aber zugleich den in der Zeit gewachsenen Schatz an Lebenserfahrung frucht- und sichtbar. Wie andere Künstlerinnen der Post-Feminismus-Zeit traut sie sich, ihre Erlebnisse als Mutter als Inspirationsquelle zu nutzen. Sie macht mit der Betonung auf Multimedialität, mit ihrem komplexen Nutzen der Neuen Medien, allein oder in Kombination mit einer medienreflexiven Malerei, die generationenspezifische Selbstverständlichkeit der Jungen gegenüber der Elektronik, ihren Farben und ihren Bildern zum Thema, nutzt dieses aber gleichzeitig zur Reflektion eigener Erinnerungen oder – anders ausgedrückt – der Spiegelung der Zeit im Lauf der Generationen.
Gerade „Blütezeit“ macht dies besonders deutlich. Das Rollenspiel der Mädchen als „Models“ mit gestopften Büstenhaltern, „sexy“-Outfits und unbekümmert kindlichem Gang ruft wohl in allen Frauen Erinnerungen an eigene „Auftritte“ in Mutters oder gar Grossmutters Kleidern wach. Somit ist einerseits Kontinuität aufgezeigt, Erinnerung wach gerufen zugleich aber ist das mediale Erscheinungsbild sowohl im Filmischen wie im Malerischen unzweifelhaft an das frühe 21te Jahrhundert gekoppelt. Wichtig ist dabei, dass Graf allen Voyeurismus in der Umsetzung eliminiert – bewusst liess sie das Material drei Jahre unbearbeitet – und sich ganz auf die Metaebene konzentriert. Das heisst, sie siedelt ihre Arbeiten da an, wo das soziale, persönliche, ja gar private Moment keine Rolle mehr spielt und sowohl die animierte filmische wie die auf die vier Printfarben reduzierte malerische Ebene zur Plattform wird, in der Erkennen und Nichterkennen eng miteinander verknüpft sind. So können sich in der Rezeption Erinnerungen in Gefühle wandeln, zu abstrakter Atmosphäre, nicht selten auch zu nostalgischen Träumen werden.
In Bezug auf Jörg Mollets „Gärten“ ist es vor allem der Begriff der „Sehnsucht“, der das Schauen weitet und die Türe zur emotionalen Empfindung öffnet. Auch er nutzt mehrere Medien für die Bildkonzeption. Doch anders als bei Graf ist ihm die ab Bildschirm gedruckte Grund-Schicht mit einander überlagernden Fragmenten ornamentaler oder pflanzlicher Beschaffenheit eher eine Art „Stempel“, nach freien Gesichtspunkten formulierte Parameter der naturgegebenen, repetitiven Grundmuster von Zeit und Leben, die nirgendwo so existentiell erlebt werden können, wie in kargen Zonen, wie in der Wüste. Nicht zufällig sind es Blätter von Pionierpflanzen wie Farn oder Winde, einfache Texturen und Ornamente, die Mollet wählt. Dabei geht es aber nie um Dokumentarisches, sondern von Anfang an um Bildnerisches, das heisst der Massstab wird von der Vorlage und der gewählten Bildgrösse bestimmt. Die grosszügige malerische Ebene, die er danach auf die begedruckten Shoji-Papiere legt, steht nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der Konzeption des Untergrundes, sondern entwickelt sich intuitiv aus Konzentration, Körpergefühl und malerischem Gedächtnis. Deutlich ist jedoch, dass es sich um Wachstumsformen, um Zellen und deren Verbindungsbahnen handelt, die in Bewegung oder zumindest in einem Zustand der Veränderung zu sein scheinen. Im Gegensatz zur tendenziellen Verkleinerung im Druckbereich, ist hier eine Makrostruktur angelegt, die sich als Kraft manifestieren will, das Lebendige neu zu schöpfen. Das gestisch-expressive Moment, das Mollets Malerei seit jeher prägt, evoziert nicht Faktisches, sondern Emotionales, beschwört gleichsam die „Regenmacher“, sie mögen die Zeugung neuen Leben ermöglichen.