2007 Laudatio Fontana-Gränacher Preis
Foto: Hanspeter Bärtschi, Solothurner Zeitung, Dezember 2007.
Laudatio Fontana-Gränacher Preis 2007
Was erwarten Sie,
liebe Annatina Graf, liebe Gäste,
von einer Laudatio? Heisst das, einen retrospektiven Überblick über das Werk der Künstlerin geben? Heisst das, die Künstlerin als die kommende Grösse im Kunstbetrieb, vielleicht nicht nur national, sondern gar international, vorzustellen? Heisst das, sie kunsthistorisch in das fast endlose Feld der Gegenwartskünstlerinnen einzureihen? Heisst das, sie mit ihren Solothurner Kolleginnen zu vergleichen?
Und sehen Sie, da habe ich mir gedacht, des Lobes auf Annatina Graf sei ja eigentlich schon damit Genüge getan, dass sie den diesjährigen Preis der Fontana Gränacher-Stiftung erhält. Vielleicht deshalb eher ein paar kritische Anmerkungen machen? Aufzeigen, wo's harzt, wo's mangelt, wie ihr Anschluss an die internationale Kunst am besten aufzugleisen sei?
Jetzt verstehen Sie bald die Welt nicht mehr, nicht wahr. Das ist gut so. Dann vergessen Sie vielleicht auch nicht so schnell, dass Annatina Graf 2007 einen Preis erhalten hat. Und Sie erinnern sich auch noch in ein paar Jahren, dass... ? Wie war das damals genau? Verschwimmt es dann doch vor Ihren Augen?
Damit sind wir eigentlich schon ganz nahe bei Annatina Graf. Und statt ihr Werk in kunsthistorischen Worten vorzustellen, oder eine Aufzählung ihrer Arbeiten vorzutragen und warum und weshalb die entstanden sind, möcht ich ein paar Sätze von Friedrich Dürrenmatt zitieren und behaupten, dass das mit Annatina Graf weitaus mehr zu tun hat. Indem es (das Leben) sich verflüchtigt, will man es gestalten; indem man es gestaltet, verfälscht man es... Das ist aus Dürrenmatts Stoffen. Stoffe als Resultate seines Denkens, der Spiegel, in dem das Leben reflektiert wird. Und wovon, bitteschön, handeln nun die Stoffe von Annatina Graf?
Ganz einfach: Kinder und Küche. Nun seien sie nicht gleich empört. Wir werden ihr ja in ein paar Minuten einen Preis verleihen, so schlimm kann es also nicht um ihre Kunst bestellt sein. Aber es ist schon so: sie malt ihre Kinder, sie installiert eine Videokamera in der Küche, um ihre Familie und sich aufzunehmen. Der Spiegel, in dem sie das reflektiert, ist das Wasser, der Himmel, und über allem, sozusagen als zwei Wolken, schweben die Wörter: erinnern und vergessen.
Erinnern steht in der Kunst schon länger hoch im Kurs. So hat vor bald zehn Jahren der deutsche Kunsthistoriker Hans Belting einen Text über Rituale der Erinnerung geschrieben. Gemeint ist dabei die Zitatkunst in der zeitgenössischen Kunstszene. Das Ritual der Erinnerung wird zum Konzept erklärt, und erinnern ist hier gleichbedeutend mit Zitieren, sich mit Klischees der Kunstgeschichte beschäftigen.
Da werden etwa Flügel des Engels aus Fra Angelicos Verkündigung bis zu Pinselstrichen von Rauschenberg nachgezeichnet, überarbeitet und übertragen.
Bei Annatina Graf meint Erinnern etwas völlig anderes. Seit circa drei Jahren beschäftigt sie sich mit diesem weitläufigen Thema und meint damit: eigene Bilder (oder konkrete Bilder anderer Personen) aus der Erinnerung auftauchen lassen, gegenwärtig machen und dann wieder verschwinden lassen. So hat sie für die sicher von vielen unter Ihnen noch in der Erinnerung haftenden Sammlungsausstellung orten hier im Kunstmuseum Solothurn die Videoinstallation Porträts geschaffen, die Videoporträts von Museumsbesucherinnen und -besuchern neben gemalte Bildnisse der Sammlung stellt. Mittels Tastendruck können die Filme in normaler Geschwindigkeit gesehen und über Kopfhörer zudem die Erinnerungen der Porträtierten gehört werden. Annatina Graf interessieren denn auch die Wechselwirkungen zwischen autobiografischem und kollektivem Erinnern als Bestandteile der Identitätsbildung, auch des geschichtlichen und kritischen Bewusstseins. Es ist aber auch das Nebeneinander von Realitätsebenen, womöglich Phantasie und Wirklichkeit, erlebte und geträumte, das Nebeneinander von verschiedenen Zeitebenen auch. Die aktive Rolle ist dann somit die Bewusstmachung und das Nachdenken über diese Prozesse.
Durch die Zusammenarbeit mit Tänzerinnen und Musikerinnen ist Annatina Graf seinerzeit auf das Medium Video gestossen, das sie nun gezielt in ihre Arbeit integriert. In Installationen wie unverblümt 2003 im Künstlerhaus Solothurn oder Wasserzeichen 2004 in der Chelsea Galerie in Laufen stellte sie Malerei und Videobild nebeneinander bzw. fügte sie zu einem neuen Ganzen zusamme. "Trotz" ihrer Ausbildung in Digital Media malt Annatina Graf auch weiter. Ihre Kunst aber ist stark auf das Konzeptuelle ausgerichtet. Deshalb sind ihre gemalten Bilder Momentaufnahmen, aus dem Fluss der Erzählung gegriffen, und vielleicht sind sie deshalb manchmal unbegreiflich - weil man ihre Vorgeschichte nicht kennt und sich die Nach-Geschichte selbst erzählen muss. Diese verborgen aus dem Nichts auftauchende Element unterstreicht Annatina Graf mit der Farbe, die sie verwendet- Aluminiumfarbe - die, je nach Blickwinkel sich verändert, ja, die Sujets verschwimmen lässt. Begriffe, die sich auch assoziieren lassen, sind etwa Warten, Hoffen, die Leere, das Nichts. Alles Begriffe, die etwas Melancholisches in sich tragen, so das Wissen um die Vergänglichkeit, Auftauchen und wieder Verschwinden - von Erinnerungen, von Menschen, von Begebenheiten.
Für die Erinnerung ist Vergessen das Wichtigste. Es filtert die Erinnerung... Nur durch das Vergessen wird die Zeit erträglich und das Erinnern formbar. Denn jede Erinnerung ist gefiltert durch die Distanz, die sie zu überwinden hat. Auch wenn sie überdeutlich ist, nie ist sie rein objektiv, das Subjektive mischt immer mit... Auch das ist übringens Dürrenmatt.
Bezeichnend für Annatina Graf ist, dass sie als Titel ihrer Serie erinnern und vergessen gewählt hat, und zwar nicht grossgeschrieben als Substantive, sondern kleingeschrieben in Verbform. Damit betont sie das aktive Element. Das lässt an Margarethe Mitscherlich denken, die in einem Vortrag vor zwei Jahren geschrieben hat, dass nur die Erinnerung die Zukunft von der Vergangenheit befreien, nur sie dem Weiderholungszwang Einsicht entgegensetzen kann.
Ist es nun paradiesisch, dass man etwas vergessen kann? Ja ganz gewiss, man würde sonst nicht lange leben. Ist es paradiesisch, dass man sich erinnern kann? Oh ja, ich finde es jeweils paradiesisch, dass sich mein Hund bei Sitz! erinnert, dass er sitzen muss... Es gibt Bücher, die heissen die Last des ERinnerns oder das Paradies des Vergessens. Manchmal vergessen wir ungern und wir erinnern uns gerne - oder wir sind froh, vergessen zu haben und uns partout nicht erinnern zu können... Diese paradiesischen Zustände aber durchbricht Annatina Graf. Sie stoppt im wörtlichsten bzw. bildhaften Sinne den Fluss der Erinnerung, oder sollte ich sagen, den Fluss des Wassers, in dem Moment, wo die Idylle (auch das ein Installationstitel von Annatina Graf) perfekt ist. Und wenn der Fluss wieder fliesst, kommt eine Schwimmerin ins Bild, zusammen mit Tönen, die Unheilvolles in sich tragen. Geht sie unter, ertrinkt sie, schafft sie es, schwimmt sie einfach weiter? Man weiss es nicht unbedingt, in dieser Videoinstallation Wasserzeichen. Aber man weiss unbedingt, dass Annatina Graf für ihr Interesse an den Fragen des Lebens und deren künstlerischer Umsetzung einen Preis verdient hat! Wir gratulieren!
Irene Stoll-Kern, Laudatio Annatina Graf, Fontana Gränacher-Preisverleihung, Kunstmuseum Solothurn, 11. Dezember 2007